: Das Fehlende gefühlt
■ Der Psychoanalytiker Dan Bar-On aus Israel im Literaturhaus
„Das Überwinden des Schweigens ist schwere Arbeit“, leitete der israelische Psychologe Dan Bar-On am Donnerstag im Literaturhaus einen außergewöhnlich denkwürdigen Abend ein. Acht Frauen und zwei Männer aus Israel, den USA und Deutschland, Kinder von Nazi-Opfern und -Tätern, saßen mit ihm vor dem bis auf den letzten ächzenden Bistro-Stuhl gefüllten Saal und berichteten über ihre ganz persönliche Arbeit in den Gruppen und die Brücken, die nach jahrzehntelangem Schweigen plötzlich zwischen Opfer- und Täterkindern zu wachsen begannen.
Ausgelöst hatte Bar-On, dessen Eltern Hamburg 1933 früh genug verlassen konnten, die Gründungen der Selbsthilfegruppen mit einer Reihe von Interviews, die er zunächst in Israel mit Kindern von Überlebenden des Holocausts und ab 1987 mit Kindern von Nazis in Deutschland geführt hatte und die er in dem 1993 erschienenen Buch Die Last des Schweigens auszugsweise veröffentlichte. Die Sprachlosigkeit war in den Familien auf beiden Seiten lähmend.
Drückend war im Literaturhaus nicht die Hitze, als die Menschen aus den Selbsthilfegruppen über ihre Geschichten und die durch die Gruppe bewirkten Veränderungen zu sprechen begannen. Erstmals waren sich 1992 Menschen aus den verschiedenen Gruppen in Wuppertal begegnet, seitdem trafen sich deutsch-jüdische Gruppen in Boston, Israel und Berlin.
„Ich hatte nie gewagt, meinen Vater darauf anzusprechen“, erzählt eine 28jährige aus Israel, deren Eltern die Vernichtungslager überlebt hatten. Erst als sie bei Dan Bar-On an der Ben-Gurion-Universität des Negev in Beer-Sheva studierte, konnte sie sich unter dem Aspekt des wissenschaftlichen Interesses überwinden, ihren Vater zu den Schrecken zu befragen. Ihre Mutter aber werde darüber nie mehr sprechen können. Wenngleich einige ihrer Freunde in Israel ihre Teilnahme an der Gruppe und überhaupt ihre Treffen mit Deutschen höchst skeptisch und kritisch sähen, habe sie auf die andere Seite sehen wollen, zumal wenn sie sehe, welche Rolle die israelische Armee in den besetzten Gebieten spiele.
„Mir wurde in der Gruppe diese Sprachlosigkeit bewußt“, berichtet eine 60jährige Kölnerin, deren Eltern seit 1932 strenge Parteigenossen gewesen waren. Erst lange nach dem Krieg und dem Tod ihrer Eltern hatte sie sich an die bedrückende Geschichte herangetraut, hatte Nachforschungen zu der Rolle des Vaters angestellt, hatte sich erinnert, wie geprägt das Elternhaus durch Haß auf Fremdes, Krankes und den Haß auf Juden geprägt war. In der Begegnung mit einem israelischen Gruppenmitglied habe sie erstmals gespürt, welche konkreten Sprachschwierigkeiten der Nazi-Terror bis heute ausgelöst hatte.
Eine andere Deutsche wiederum erzählte, wie sie sich aus Renitenz gegenüber der schweigenden Familie mit der Vergangenheit des Vaters zu beschäftigen begann. Die grausamen Fakten, die sie dabei zu Tage förderte, ließen sie zunächst verstummen. Ein 32jähriger Amerikaner erzählt von seinen Eltern, beide „Überlebende“, aber was heiße das schon, denn das Leben seiner Mutter ist durch die Erinnerungen des Schreckens und des Schmerzes zerstört.
Durch das gemeinsame Reden, Erinnern, Trauern und Weinen, berichtet eine etwa Vierzigjährige Deutsche, Tochter eines Leiters eines Einsatzkommandos in der Ukraine, sei die Gruppe zu einer Art Familienersatz geworden. Unbewegt lauschte die „vaterlose Generation“ zwischen 30 und 60 und die, die den Nazi-Terror selbst erlebt hatten. Die Schleusen des Schweigens, die Dan Bar-On in diesen – in Deutschland übrigens beispiellosen Gruppen – geöffnet hat, lehren exemplarisch den Umgang zwischen Menschen, deren Elterngeneration füreinander Feinde waren. Unterstützung für seine Arbeit bekommt Dan Bar-On von offizieller deutscher Seite nicht. „Hier gibt es nichts, das an das erinnert, was hier vor 50 Jahren geschah“, sagte die junge Israelin. Was damals verlorengegangen war, das war an diesem Abend im Literaturhaus zu spüren.
Julia Kossmann
„Die Last des Schweigens“, Campus-Verlag, 1993, 39,80 Mark
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