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Verzweiflungstat gegen Haftexzeß

■ Den mehrheitlich algerischen Abschiebehäftlingen der JVA Kassel, deren "spontane Aktion", die Geiselnahme eines Beamten, gestern von der GSG 9 beendet wurde, ging es offenbar vornehmlich um die ...

Den mehrheitlich algerischen Abschiebehäftlingen der JVA Kassel, deren „spontane Aktion“, die Geiselnahme eines Beamten, gestern von der GSG 9 beendet wurde, ging es offenbar vornehmlich um die Verbesserung ihrer Haftbedingungen.

Verzweiflungstat gegen Haftexzeß

Die GSG 9 war zur action bereit – und die Chance zur Demonstration der praktischen Umsetzung eingeübter Befreiungsszenarien ließ sich die Elitetruppe des Bundesgrenzschutzes gestern in Kassel nicht entgehen. Obwohl die rund 40 Abschiebehäftlinge, die am Sonntag gegen Mittag einen 39jährigen Justizvollzugsbeamten als Geisel genommen hatten und so ihre kollektive Ausreise in ein anderes europäisches Land erzwingen wollten, am Montag morgen gegen 8 Uhr müde und erschöpft aufgeben wollten, stürmten GSG-9-Beamte den bereitgestellten Bus. Wie von der Polizei in Kassel zu erfahren war, hätten rund 30 „ausgesuchte Kämpfer“ der nach dem Desaster von Bad Kleinen moralisch schwer angeschlagenen Truppe zunächst eine Blendschockgranate geworfen, die Geisel aus dem Bus geholt und dann die zum Abtransport in eine andere Haftanstalt bereiten Abschiebehäftlinge überwältigt und als „verschnürte Pakete“ auf dem Boden abgelegt. Bei der „Überwältigung“ der Algerier, Marokkaner und Polen sollen die Beamten – nach einem gestern veröffentlichten Augenzeugenbericht des AP-Fotografen Jens Meyer – „ziemlich draufgeschwartet“ haben.

Wie der neue hessische Innenminister Gerhard Bökel (SPD) gestern auf einer Pressekonferenz in Kassel sagte, sei der Einsatz der GSG-9-Beamten notwendig geworden, weil sich die Geiselnehmer offenbar nicht an die in den frühen Morgenstunden getroffenen Absprachen gehalten hätten. So sei mit den Geiselnehmern vereinbart worden, sie mit einem Bus in ein Gefängnis nach Wiesbaden zu verbringen – nach der Freilassung der Geisel. Die angeblich zur Aufgabe bereiten Geiselnehmer hätten dann aber mit dem Justizvollzugsbeamten, einem Dolmetscher und einer Anwältin den Bus bestiegen. Um eine Fortsetzung der Geiselnahme zu verhindern, sei dann die GSG9 zum Einsatz gekommen.

Erleichtert sprach der erst drei Wochen amtierende Innenminister Bökel von einem „unblutigen Ende“ des Geiseldramas. Und auch die Geisel sei bei einem „Gerangel“ mit den Häftlingen am Sonntag vormittag nur leicht am Auge verletzt worden. Nachdem Spezialeinheiten der Polizei bereits am Sonntag abend vergeblich versucht hatten, die Geisel mit Gewalt zu befreien, handelte ein marokkanischer Imam, der von dem bündnisgrünen Stadtrat Volker Schäfer um Hilfe gebeten worden war, die Modalitäten für das Ende der Geiselnahme aus.

Auslöser für die „spontane Aktion“ der Häftlinge am Sonntag vormittag, so die hessische Justizministerin Christiane Hohmann- Dennhardt (SPD), sei der überraschende Angriff eines deutschen Gefangenen auf einen Justizvollzugsbeamten gewesen – mit einer „Bombenattrappe“. Die ausländischen Gefangenen hätten die verworrene Situation dann dazu genutzt, den Beamten als Geisel zu nehmen und sich mit seinen Schlüsseln Zugang zu zwei Abteilungen der JVA zu verschaffen. Die Geiselnehmer legten danach Feuer, das von der Berufsfeuerwehr Kassel gelöscht werden konnte. Als dann die Spezialeinheiten gegen 20 Uhr den Komplex stürmten, hatten sich die Nordafrikaner und einige Polen bereits verbarrikadiert. Nach zwei Stunden brach die Polizei den Befreiungsversuch ab. Alle Häftlinge, die mit der „spontanen Aktion“ der Geiselnehmer nichts zu tun haben wollten, wurden in andere Gefängnisse verbracht.

Lange Haftzeiten aufgrund von „Paßproblemen“

Wie Hohmann-Dennhard weiter erklärte, habe in dem „sicher überfüllten“ Untersuchungsgefängnis in Kassel bislang ein „gutes Klima“ geherrscht, so daß die Justizbehörden von der Meuterei der Gefangenen „völlig überrascht“ worden seien. Allerding müßten gerade Abschiebehäftlinge aus Algerien und Marokko aufgrund von „Paßproblemen“ langen Abschiebehaftzeiten ausgesetzt werden, sagte die Ministerin. Während etwa Rumänen durchschnittlich 18 Tage in Abschiebehaft sitzen würden, dauere die Abschiebehaft bei den Algeriern im Schnitt 90 Tage. Die „Überfüllung“ im U-Knast in Kassel begründete Hohmann- Dennhardt mit dem „Ausfall von Weiterstadt“ nach dem zerstörerischen Bombenanschlag der RAF auf den Gefängnisneubau in Südhessen. Darüber hinaus hätten gerade die Algerier und Marokkaner darüber Klage geführt, daß die JVA-Beamten auf ihre religiösen Sitten und Gebräuche keine Rücksichten genommen hätten.

Wie Volker Schäfer von Bündnis 90/Die Grünen, der als Stadtrat von Kassel in der Nacht vor Ort war, auf Nachfrage der taz sagte, habe auch der marokkanische Imam, der dann die Verhandlungen führte, bestätigt, daß es den Meuterern vornehmlich um die Verbesserung ihrer Haftbedingungen gegangen sei. Besonders verbittert habe es die algerischen und marokkanischen Gefangenen, von denen sich einige seit mehr als einem Jahr in Abschiebehaft befinden sollen, daß ihnen von der JVA- Leitung ein besonderer Raum zum beten verweigert worden sei. Ihre erste Forderung an den Imam sei denn auch eine „geradezu rührende Geste der Verzweiflung“ (Schäfer) gewesen. Für gesammeltes Geld sollte ihnen der Imam endlich original arabisches Essen besorgen. Schäfer: „Tätsächlich sind dann einige losgezogen und haben Kebab und anderes gekauft.“ Schäfer bestätigte auch, daß es unter den Gefangenen divergierende Meinungen über den Sinn und Zweck der gesamten Aktion gegeben habe – und über das Zielland bei einer eventuellen Ausreise. So habe eine Anwältin ihren an der Meuterei beteiligten Mandanten noch in der Nacht zur Aufgabe überreden können. Doch der junge Algerier sei dann nicht aus dem Gebäudekomplex herausgekommen – „aus welchen Gründen auch immer“.

„Es muß etwas nicht stimmen am Asylgesetz und seinen Ausführungsbestimmungen, wenn Menschen über ein Jahr lang eingeknastet werden, nur weil ihr Asylverfahren nicht zum Abschluß gebracht werden kann“, sagte Stadtrat Schäfer. In Kassel jedenfalls werden die Abschiebehäftlinge so schnell nicht wieder eingeknastet werden können, sieht doch die Untersuchungshaftanstalt nach der Meuterei aus wie das fast fertiggestellte Hochsicherheitsgefängnis von Weiterstadt – nach dem Bombenanschlag. Klaus-Peter Klingelschmitt

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