: Du sollst nicht hören
Digitaler Hörfunk als Quelle der fehlenden Töne – oder was macht das menschliche Ohr mit mathematischem Datenmüll? ■ Von Frank Wörler
Die Entwicklung der elektronischen Medien stand von Beginn an unter dem Diktat der Technik. Das Ideal, mit der elektronischen Reproduktion der Wirklichkeit immer näher zu kommen, führte uns von Schwarzweiß zu Farbe, von Mittelwelle zu UKW, von Schellackplatte zur Compact Disc. Nicht die Programmacher mit ihren künstlerisch-ästhetischen Ansprüchen forderten die Weiterentwicklung, vielmehr waren es Ingenieure, die die Bild- und Tonmedien in ihrer heutigen Form schufen.
Betrachtet man die umfassende Macht und beherrschende Stellung der Medien in unserer Gesellschaft, so scheint es nicht unerheblich, daß es nur eine kleine Gruppe einer speziellen wissenschaftlich-handwerklichen Disziplin war, die dieses Gebilde erschuf. Ein eigentlich harmloses Ziel verfolgend – denn wer sieht in der möglichst naturgetreuen Abbildung schon was Arges –, fand der interdisziplinäre Austausch nie statt. Man forschte fasziniert, entwickelte mit Enthusiasmus, was der Unterhaltungsindustrie einen neuen künstlichen Kaufboom bescherte. Ohne den Fortschritt zu verteufeln, muß man doch festhalten, daß eine ernsthafte kulturästhetische Diskussion diese Entwicklung bisher allenfalls am Rande begleitete.
Heute macht sich die Unterhaltungsindustrie Sorgen um eine für sie fatale Marktsättigung. Neue Technologien werden aus dem Boden gestampft. So zum Beispiel die völlig überflüssige Überspielung von Dias auf CDs, die dann auf einem speziellen, neu zu erwerbenden Zusatzgerät abgespielt werden können. Das visuelle Resultat auf dem Fernseher ist ein Witz: Mit dem besten TV-Gerät kommt man nicht an die Brillanz und Farbwiedergabe des Original-Filmmaterials heran.
Sieht man in dieser Entwicklung einen klaren Rückschritt in Sachen Darstellungsqualität, so sind die Folgen der geplanten Einführung eines digitalen terrestrischen Hörfunks schwieriger zu überschauen. Bisher wird digitales (Pay-)Radio von Privatanbietern nur über Satellit ausgestrahlt. Wenn jedoch die Pläne der „DAB-Plattform“, einem Gremium aus ARD, Privaten, Forschung, Telekom und Geräteherstellern, aufgehen, dann wird wohl bis zum Jahre 2015 unser analoges UKW-Radio gänzlich vom Digitalen Hörfunk abgelöst sein. Zum einen wird es dann dank Digitalisierung mehr Frequenzen, also auch mehr Kanäle geben. Zum anderen soll, wie Frank Müller-Römer, Vorsitzender der DAB-Vereinigung, begeistert schwärmt, Radio endlich auch in der „sogenannten CD-Qualität“ senden.
Doch hier sollte man genau hinsehen: Beim DAB (Digital Audio Broadcasting) wird ein technisch komplexer Vorgang das Rundfunksignal – verglichen mit dem ursprünglichen akustischen Signal – bereichern und gleichzeitig verarmen. Mit einem unhörbar arbeitenden Rechenalgorhythmus werden die Töne subtil manipuliert und verstümmelt. Denn um ein digitales Tonsignal in CD-Qualität zu übertragen, benötigt man einen immensen Datenstrom. Diese Datenmenge kann die zur Verfügung stehende Sendetechnik im UKW-Bereich aber nicht bewältigen. Ein Dilemma, aus dem eine ursprünglich für Sprachkodierung entwickelte Software hilft: Denn statistisch gesehen, kommen manche Signalverläufe häufiger vor als andere. Die wahrscheinlicheren Signale werden deshalb mit einer kleineren Datenmenge beschrieben, die unwahrscheinlichen verschlüsselt man mit längeren Datenwörtern. Somit kommt man im Mittel auf eine kleinere Datenmenge.
Doch dieses als Redundanzreduktion bezeichnete Verfahren ist bei weitem nicht ausreichend. Erst die Ausnutzung psychoakustischer Phänomene kann den Datenstrom so verringern, daß er mit einem Sender ausgestrahlt werden kann. Das „Perceptual Audio Coding“ nutzt intelligent die Schwächen des menschlichen Ohres aus, indem ein Computer dem Signal alle Anteile wegnimmt, die nicht bewußt wahrgenommen werden können: Zum Beispiel besitzt das Ohr ein begrenztes Auflösungsvermögen, was die Beurteilung von Lautstärke anbelangt. Oder man nutzt den sogenannten „Verdeckungseffekt“. Vereinfacht ausgedrückt: wenn mir jemand ins Ohr schreit, kann ich nicht mehr gleichzeitig das Ticken meiner Küchenuhr hören. Das eine Tonsignal „verdeckt“ das andere.
In einem sehr komplexen Verfahren schrumpft so die zu übertragende Datenmenge von den 706 kBit /sec der Compact Disc auf 128 kBit /sec. Dem digitalen Sendebetrieb steht nichts mehr im Wege. Sogar Platz für Zusatzinformationen wie Verkehrsfunk und Senderkennung ist bei dieser Datenrate noch ausreichend vorhanden. Empfangsprobleme, wie sie beim Radiohören im Auto oder hervorgerufen durch des Nachbars Mixer auftraten, gehören im Zeitalter des DAB der Vergangenheit an.
Doch sollte man aufhorchen, wenn ein derart populäres Medium wie das Radio neue technische Rahmenbedingungen erhält. Was und wieviel bei der Datenreduktion ohne Verlust weggelassen werden kann, wird letztlich mit Experimenten am Menschen ermittelt: 1990 begann man in Stockholm mit Versuchen, in denen Testpersonen verschiedene Rechenverfahren hinsichtlich der Klangqualität beurteilen sollten. Heute sind die Reduktionsverfahren weitgehend genormt: Kaum eine Testperson kann das datenreduzierte Signal mehr vom Original unterscheiden.
Doch das bedeutet nicht zwangsläufig, daß sich unser Höreindruck nicht ändert. Die Tests beruhen alle auf einer bewußten Wahrnehmung und Beurteilung. Daß verdeckte Signalanteile unbewußt aufgenommen werden, will selbst Professor Fastl von der TU München, beteiligt an der Erforschung der Reduktionsverfahren, nicht gänzlich ausschließen. Die Prozesse im Ohr, die die Verdeckungseffekte hervorrufen, sind noch nicht vollständig geortet: Welche „Hörschwäche“ ist durch die physiologische Konstruktion des Gehörs bedingt? Welche sind ein Filter unseres Bewußtseins?
Brisant wird diese Thematik vor allem deshalb, weil ein Weglassen von Signalanteilen nicht einfach „weniger Information“ bedeutet: Außerhalb des Hörbereichs, also da, wo man Signale einspart, gestattet man dem Decoder mathematischen Müll der häßlichsten Machart auszuspucken. Statt harmonischer Obertöne kommen synthetische Zerrsounds aus dem Lautsprecher. Diese subtile Kakophonie ist der Preis für die oberflächliche Reinheit des Signals.
Im Zuge der neuen Technik wird das menschliche Ohr als sensibles Sinnesorgan bevormundet und um einen Teil der akustischen Wirklichkeit beraubt. War bisher die Schwäche der Technik natürliche Grundlage für die kulturell wichtige Fähigkeit des Menschen, Original von Abbildung zu unterscheiden, werden hier die Vorzeichen vertauscht: Die Unfähigkeit des menschlichen Ohrs verhilft der Technik zum Triumph. Bestimmte bisher der Mensch, was Wirklichkeit ist, definiert hier die Technik eine künstliche Wahrheit. Manche HiFi-Enthusiasten greifen bis heute nicht zur CD, weil sie die „Atmosphäre“ der Schallplatte der rechnerisch genauen, aber auch genau begrenzten Wiedergabe vorziehen. Was passiert bei einer Dauerberieselung durch Digitalen Hörfunk, wenn statt subtiler harmonischer Schwingungen nun technischer Müll an unser Ohr dringt, mit unseren Gedanken und Gefühlen?
Ein Müllproblem ganz anderer Art wird sich jedenfalls stellen, wenn in einigen Jahren wirklich alle UKW-Sender auf „digital“ umgestellt sind: Millionen von Radiogeräten müssen dann entsorgt werden.
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