: Schadenszauber
Das Außen ist zerstört, das Innen aber auch: In Bayreuth wurde an vier ausverkauften Opernabenden und bei 40 Grad Hitze im Parkett Richard Wagners „Ring des Nibelungen“ komplett aufgeführt. Es war das 13. Mal seit 1876 ■ Von Sabine Zurmühl
Wie kommt das Böse in die Welt – was bringt die Menschen dazu, andere zu demütigen, was macht Angst mit ihnen und was die Liebe? Der „Ring des Nibelungen“ führt für diese Fragen mögliche Antworten vor – und daß dies dann Zwerge, Götter, Drachen und fliegende Walküren, sich liebende Geschwister und Kinder des Wassers und der Luft vorführen, macht die Sache nicht schwieriger, sondern in ihrem archetypischen und märchenhaften Zug vielleicht sogar leichter.
Jedenfalls saßen dieses Jahr wieder 2.000 schwitzende, zu musikalischen und szenischen Abenteuern bereite Zuschauer im Festspielhaus bei an die 40 Grad Hitze, mit großer Neugierde und kleiner Häme – was kann noch Neues kommen, das überzeugend wäre und wiederum ein anderer inhaltlicher Zugang als die bislang zwölf Inszenierungen, die der „Ring“ in Bayreuth seit seiner Uraufführung im Jahre 1876 erfahren hat? Es kommt neu. Der Jubel ist groß und ein paar strenge „Buhs“ tun dem keinen Abbruch.
Bayreuth ist Widerspruch. Zwischen ästhetischer Auseinandersetzung und natürlich dem politischen Schatten, den dieser Name trägt. Daß Wagner ein verheerender Antisemit war, was ihn nicht hinderte, Hermann Levi zu seinem bevorzugten „Ring“-Dirigenten zu machen; daß Winifred Wagner, die Schwiegertochter, uneinsichtigst an Hitler hing; daß Wagners germanische Bühnenwelt aufs dümmste mißbrauchbar war in der Nazizeit: all dies ist zuallerletzt in Bayreuth ein Tabu. Die Auseinandersetzung mit Wagner läßt dies gar nicht zu. Aber in seiner Musik und seinen Stoffen liegt weiterhin ein solches Angebot an Provokation, daß für viele Theaterleute kein Weg an ihm vorbeiführt.
Kirchner hat die Kunst zum Kumpel gebracht
Alfred Kirchner hat bei dem neuen „Ring“ die Regie geführt, ein alter Kämpe des aufmüpfigen Theaters, langjähriger Weggefährte Peymanns, auch Generaldirektor der Berliner Staatlichen Bühnen und hochbezahlter Aussteiger aus dem Quadrumvirat. Kirchner hat in Bremen, Stuttgart, Bochum gearbeitet, hat Mitbestimmung diskutiert und die Kunst zum Kumpel gebracht. Bundesrepublikanische Theatergeschichte. Darüber hinaus aber immer auch Operninszenierungen, Mozart, 19. Jahrhundert und viel Moderne.
Kirchner ist ein Leiser, er bezieht sich auf Max Reinhardt, für den Theater nichts anderes bedeutete, als daß man seine Kindheit in positivem Sinne in die Tasche stecke und weiterspiele. Die Märchenhandlungen des „Rings“ mit seinen über vier Abende sich entfaltenden Übertölpelungs-, Liebes- und Schadenszaubern läßt dies zu, die Geschichte vom Anfang und Ende der Welt.
Kirchner zur Seite die Künstlerin Rosalie (Sprich: Rosśalje), die malt und baut und installiert, die „etwas Schlankes, Klares“ im „Ring“ gestalten will, „durchsichtig und befreit von allem Wust, eine Abstraktion voller Schönheit und auch Heiterkeit“. Das Konzept geht auf. Zusammen mit dem Zelebrierer der Langsamkeit, dem Dirigenten James Levine, gelingen vier Abende (Rheingold, Walküre, Siegfried, Götterdämmerung), an denen sich die puristische Konzentration Kirchners aufs beste in gleichzeitig reduzierten und doch auch opulenten Bildern entfalten kann: das Rheingold, das gestohlen wird vom Zwerg Alberich, weil er Liebe nicht bekommen kann, der darum betrogen wird von Wotan und der mit seinem verzweifelten, rachsüchtigen und ohnmächtigen Fluch, mit seiner Phantasie der Rache recht behalten wird.
Der Bühnenraum bleibt oft fast wieland-wagnerisch leer, ein überdimensionaler roter Speer zertrümmert eine rechteckige Glasfläche, wie sie später in anderen Variationen wiederauftauchen wird. Rosalie arbeitet mit wenigen einprägsamen Symbolen und Stoffen, dem abgeplatteten Erdenrund, der silbernen Wand, farblich systematisierten Bezügen: schwarzrot, königsgötterblau, erdbraun.
Nietzsche schrieb, Wagner sei ein Orpheus des heimlichen Elends, und damit hatte er – wie mit vielem, was Wagner betraf – recht. Kirchner interessiert sich gerade dafür: für die hinter der anmaßenden Geste liegenden Ängste und Verzweiflungen. Insbesondere die der Männer.
Wotan, gesungen von John Tomlinson, ist der Zauderer, der seine Autorität schon selbst nicht glaubt, der allen alles recht machen möchte und dazu noch heil herauskommen will. Jeder Siegerstatus ist unglaubhaft, offensichtliche Pose. Wenn Wotan die Tochter Brünnhilde zur Strafe dem Feuerring überläßt, weil sie Siegmund das Leben lassen wollte, dann bestraft er durch diese Trennung letztendlich sich selbst am meisten. In diesem „Feuerzauber“ bleibt er selbst vom Feuer eingeschlossen, abgedankt und traurig.
Brünnhilde (wie in Berlin und beim vorigen Kupfer-„Ring“: Deborah Polaski), muß hier als wilde und kräftige Wotanstochter nicht trotzig sein und neckisch kindlich. Sie setzt ihre spitzen und schrillen Walkürenschreie wie Schüsse und rührt genauso mit zartesten und klaren Tönen, wenn sie aus der Tochter-Göttin – entmachtet – zur Menschenfrau wird.
Kirchner hat ein feines Ohr dafür, wie Demütigungen entstehen, und Wünsche – immer neue – nach der Liebe. Er kommt dabei ohne Häme und Denunziation aus. Die theatralische Eindeutigkeit von Gut und Böse ist aufgehoben. Auch wer Böses in Gang setzt, hat eine Würde – wie Alberich und Mime, die wie zwei abgekämpfte Vietnamkämpfer daherkommen. Und auch wer Gutes vorzeigt, ist von dem Schatten seiner anderen Wünsche nicht frei – Geltung, Einfluß, Liebeszwang. „Nicht zukleistern, sondern klarmachen“ möchte Kirchner, und dazu ist bei Wagner reichlich Anlaß.
Richard Wagner hat sein Leben lang mit Großsprecherei und Auftrumpferei über die Wunden seiner sozialen Herkunft, seiner kleinen Gestalt und, ja, wohl auch seiner Häßlichkeit hinwegaktioniert – und gleichzeitig jedoch mit seiner Musik und seinen Themen die Berührbarkeit erhalten.
Bei Kirchner wird gerade diese Berührbarkeit zentral. Die Menschen bleiben oft auf vorsichtiger Distanz, sie riechen gewissermaßen aneinander, sie stürzen sich nicht, von Pseudoleidenschaft befallen, in die Arme: etwa wenn Siegfried (hervorragend gesungen und gespielt von Wolfgang Schmidt) die Walküre sieht und weckt. (Es ist rührend und total anachronistisch, wie im Jahre 1994 ein Publikum von 2.000 erwachsenen Menschen atemlos und überwach auf diesen Kuß wartet – Totenstille, Kinderwahrheit ...)
Kirchner gibt dem Befremden, der Verängstigung und Enttäuschung bei Brünnhilde Raum. Die „wilde Felsenfrau“ und der Waldjunge dürfen sich fremd bleiben, scheu. Das Erschrecken über die „leuchtende Liebe“ und den „lachenden Tod“ dürfen sie weit voneinander entfernt singen, Distanz und Klarheit der Verhältnisse.
Göttliche Personen im Gesellschaftspanzer
Die Ausstattung legt dabei keinerlei speziellen historischen Bezug nahe – weder an die Entstehungszeit des „Rings“ noch an die Gegenwart. „Der Ring spielt jeden Tag. Ich weiß nur, daß im Mythos etwas verborgen ist, das mit meiner Biographie zu tun hat“, sagt Rosalie in einem Gespräch. Ihre Kostüme erinnern manchmal an die frühe Ulrike Ottinger und ihre Kostümbildnerin Tabea Blumenschein: ausgestellte, witzige, teils androgyne, dann aber wieder besonders körperbetonte Hüllen aus klaren Farben und oft kostbarer Konstruktion. Falten, Fischbein, durchsichtige steife Umhüllungen; sie will keine allzu genaue historische Fixierung.
Die Walküren tragen abstehende Hosen, Rokokoschößen nicht unähnlich, dazu martialische rote Samtbrüste, die etliche Herren im Parkett – zumal verbreitet worden war, es handle sich um „Originalabgüsse“ – das Opernglas zücken ließen. Von inszeniertem Voyeurismus konnte dabei aber kaum die Rede sein: Die göttlichen Personen dieses „Rings“ tragen einen solchen Torso, der den gesellschaftlichen Panzer andeutet, die zugedachte Rolle.
Die Bühnenbilder arbeiten auch im Großen mit immer wiederkehrenden Symbolen: dem Silber des Rheins, wie Computeranimationen in abgedämpfter Bewegung gehalten; oder dem geradezu schamlos poetischen Grün der Natur, erzeugt von einer üppigen Ansammlung grüner Sonnenschirme, die wie ein Blätterwald „atmen“.
Humor und Leichtigkeit sind zugelassen, aber auch deutliche Trauer. So sind die Zwillingsgeschwister Siegmund und Sieglinde, die sich lieben und sterben müssen, für einen kleinen müden Moment das altgewordene vertraute Paar, das sie nie werden können.
Und in der „Götterdämmerung“ schließlich wird die betrogene, eingefangene und vergewaltigte Brünnhilde nicht mehr – wie etwa bei Chéreau und Kupfer – wie ein gebändigtes Stück Wild hereingezerrt an den Hof der Gibichungen, sondern sie geht aufrecht mit, in schockartiger Trance, ohne Verbindung zu den anderen.
Im Laufe dieser vier Abende verlieren sich die Beziehungen der Menschen zueinander immer mehr. Das Außen ist zerstört, das Innen aber auch. Brünnhilde durchschaut endlich die Intrige – „daß wissend würde ein Weib“ – und verzichtet auf jede Zukunft für sich.
Es ist ein keuscher „Ring“ geworden, der nicht die Emphase bedient, den Rausch. Der darf – nur – in der Musik stattfinden. Wo früher oft Rauchschwaden, auf- und absteigendes Walhall, Glimmerglitzer, Hagens Mannen, ein toter Gunther und eine weinende Gutrune und auch noch das Volk als Ganzes die Schlußszene bevölkerten, bleibt hier gänzliche Leere. Menschenleere Bühne. Eine Hoffnung ist nicht erkennbar, es sei denn in den Köpfen der Zuschauer.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen