: Einsatz im „europäischen Interesse“
Wo und von wem das „europäische Interesse“ definiert wird, ist allerdings offen – Mandat, Auftraggeber, Einsatzorte und mögliche Anlässe zum Einsatz des Eurokorps sind noch unklar ■ Aus Genf Andreas Zumach
Wochenlang hatte die Pariser Regierung bei den Freunden und Verbündeten in Bonn auf eine Beteiligung an der „humanitären Aktion“ in Ruanda gedrängt. Einige tausend Bundeswehrsoldaten, deutsche Waffen und Gerät, alles bezahlt aus deutschen Kassen — das wäre für die Regierung Balladur eine sehr willkommene Entlastung gewesen. Auch gegenüber den eigenen Steuerzahlern, die immer lauter murren wegen der Ausgaben für die bereits seit Mitte 92 in Ex-Jugoslawien stationierten französischen UNO-Truppen. Als Rahmen für die gemeinsame Ruanda-Aktion sollte das Eurokorps, dienen. Nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über Auslandsmissionen der Bundeswehr, die in Paris ebenso wie in Bonn ja schon Wochen zuvor so erwartet wurde, wie sie schließlich ausfiel, sah die Regierung Balladur keine Hindernisse mehr für einen ersten Einsatz des gemeinsamen Militärverbandes.
Dabei übersah sie, daß in Deutschland Wahlkampf herrscht und die Bonner Koalition trotz aller Genugtuung über die „Niederlage“ der SPD in Karlsruhe kalte Füße bekommen hatte. Zumindest bis zum 16. Oktober kommt für Kanzler Kohl und Außenminister Kinkel ein Auslandseinsatz, von dem möglicherweise einige Bundeswehrsoldaten in Zinksärgen heimkehren, nicht in Frage.
Das Eurokorps sei „kein neues Afrikakorps“. Mit dieser Erklärung lehnte die Bundesregierung die Bitte der französischen Freunde ab. Eine Begründung, die in Paris nicht überzeugte. Denn der Kernverband des Eurokorps, die bereits 1991 aus der Taufe gehobene deutsch-französische Brigade im elsässischen Mülheim, steht laut Vertrag seit Januar 94 für „humanitäre Aktionen“ bereit. Doch aus übergeordnetem politischen Interesse akzeptierte die Regierung Balladur das „Nein“ aus Bonn und ließ sogar erstmals Bundeswehrsoldaten als Teil einer Eurokorps-Einheit am 14. Juli über die Pariser Champs-Élysées marschieren.
Die Regierung in Paris verbindet mit dem Eurokorps unverändert das strategische Ziel, den großen Nachbarn im Osten an sich zu binden und ihn auf gewisse Distanz zu den USA zu bringen. Auf diese Weise soll der Nato-Verbund gelockert und der Einfluß der Amerikaner in Westeuropa geschmälert werden. Genau dieser Verdacht führte denn auch zu scharfen Reaktionen vor allem aus London, Washington und Den Haag, als Kohl und Mitterrand im Oktober 91 in einem Überraschungscoup und ohne vorherige Konsultationen mit den Nato-Verbündeten auf einer Pressekonferenz in Bonn die Bildung der deutsch-französischen Brigade ankündigten. Auf der anschließenden Tagung der Nato-Verteidigungsminister im sizilianischen Taormina kam es zu heftigen Auseinandersetzungen vor allem zwischen dem damaligen Bundesverteidigungsminister Stoltenberg und seinem britischen Kollegen King sowie zu äußerst gehässigen antibritischen Äußerungen deutscher Offiziere. Als die taz diese Auseinandersetzungen damals öffentlich machte und einen der ranghöchsten Generäle der Hardthöhe zitierte, der King einen „heruntergekommenen Stiefelknecht“ genannt hatte, mußte Stoltenberg den General von seinem Posten ablösen.
Die Wogen haben sich seitdem geglättet. Doch die politischen Differenzen sind nur teilweise überwunden. Zwar hat die US-Regierung unter Clinton ihre Bedenken gegen eine Stärkung „europäischer Verteidigungsidentität“ weitgehend aufgegeben. Doch wenn Nato und Eurokorps die Truppen gleichzeitig benötigten, hätte der Einsatz im Nato-Rahmen nach wie vor Vorrang. Entsprechend hält sich die Bereitschaft westeuropäischer Nato-Staaten, beim Eurokorps mitzumachen, in Grenzen. Derzeit ist offen, ob das Eurokorps bis zum 1. Oktober 95 die vertraglich vereinbarte Größe von 50.000 einsatzfähigen Soldaten erreichen wird. Wesentlicher Grund für die Zurückhaltung: Auftraggeber, Mandat, mögliche Anlässe und geographischer Rahmen für Einsätze des Eurokorps sind weiterhin unklar.
Laut Gründungsvertrag soll das Korps in Ausfüllung der bislang immer nur proklamierten „Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik“ der EU und in den Strukturen der Westeuropäischen Union (WEU) „Maßnahmen zur Herbeiführung des Friedens“ durchführen, „friedenserhaltende“ und „friedensschaffende“ Aktionen sowie „Kampfeinsätze bei der Krisenbewältigung“ und als „Krisenreaktionskräfte“ im Rahmen der UNO oder anderer Institutionen dienen. Damit wurden für das Eurokorps die Begriffe aus dem Bereich der UNO, die auch dort bis heute weder in der Charta noch durch Beschlüsse des Sicherheitsrates oder der Generalversammlung definiert sind, übernommen und ergänzt um die Option bewaffneter Interventionen im „europäischen Interesse“. Was das „europäische Interesse“ ist, wird allerdings in den Hauptstädten der EU-Mitglieder nach wie vor unterschiedlich, ja gegensätzlich definiert.
Die Bereitschaft der EU-Staaten, der WEU das Eurokorps oder andere militärische Verbände zuzuordnen, ist dementsprechend weiterhin gering, beklagt die zuständige Berichterstatterin der WEU, Baarveld-Schlaman, in ihrem Report für die letzte WEU- Versammlung im Juni. „Unter diesen Umständen stellt sich die Frage“, heißt es, „ob die Bildung des Eurokorps tatsächlich der erste Schritt hin zu einer Europäischen Armee sein sollte oder wieder nur eine Public-Relations-Übung ohne substantielle Bedeutung.“
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