: Wie während der Hexenverfolgungen
■ Ein offener Brief der amerikanischen Schriftstellerin Susan Sontag an Taslima Nasrin
Liebe Taslima Nasrin,
vor einer Stunde habe ich erfahren, daß Sie in Schweden angekommen sind. Ich war natürlich erleichtert. Zu sagen, daß ich mich um Sie gesorgt habe, wäre eine Untertreibung. Seit ich vor etwa zehn Monaten von Ihrer Misere erfahren habe, verging kein Tag, an dem ich nicht an Sie gedacht, um sie gebangt und die Stärke jener Kräfte beklagt hätte, die Sie nun ins Exil getrieben haben.
Nun sind Sie endlich sicher. Relativ sicher, sollte ich wohl sagen, denn das Schicksal meines Freundes Salman Rushdie hat uns gelehrt, daß die Ideologie der mörderischen Bigotterie lange Arme hat. Schweden scheint der folgerichtige Ort für Ihre Flucht zu sein, wo man Sie, da bin ich sicher, mit großer Sympathie und Unterstützung empfangen hat.
Trotzdem bleibt die Tatsache, daß Sie zu dieser Flucht gezwungen wurden, um Ihr Leben zu retten. Das ist an sich schon ein Verbrechen: daß es in Ihrem eigenen Land keinen Ort für eine Schriftstellerin wie Sie, für eine Stimme wie die Ihre gibt. Ich nehme an, daß Schweden, das von Bangladesch so verschieden ist, wie sich zwei Länder nur sein können, ein Ort ist, den Sie immer schon einmal besuchen wollten. Aber ich bin sicher, daß auch Sie finden, daß eine Schriftstellerin aus Bangladesch, wenn sie möchte, auch dort leben können sollte – leben, ohne die Wahrscheinlichkeit, ermordet zu werden, weil sie einen Roman geschrieben und in Interviews einige maßvolle und absolut vernünftige Bemerkungen gemacht hat.
Ihr Fall, sofern das überhaupt das richtige Wort ist, wurde oft als ein neues Beispiel für die weitreichende, unerbittliche Strafe angeführt, die Salman Rushdie die vergangenen fünf Jahre dazu zwang, in England unter bewaffneter Bewachung zu leben. Salman Rushdie schrieb einen Roman, „Die satanischen Verse“, und eine seiner Besprechungen war ein Todesurteil. Letztes Jahr haben Sie einen Roman geschrieben, „Lajja“ (Schande), der zunächst in Ihrem Land veröffentlicht und dann eiligst verboten wurde. Nach dem Verbot kamen dann die Rufe, Sie wegen Ihrer Blasphemie anzuklagen, worauf die Todesstrafe steht. Es besteht natürlich ein Unterschied darin, daß Sie von den politischen Kräften eines Landes angeklagt und bedroht wurden, dessen Bürgerin Sie sind, während der britische Staatsbürger Salman Rushdie von einem Land zum Tode verurteilt wurde, zu dem er keinerlei Verbindung hatte, Iran. Aber es geht um die gleiche Beschuldigung: „Blasphemie“ oder, profaner ausgedrückt, daß ein Schriftsteller die Gefühle von Gläubigen „verletzt“ habe.
Aber es gibt da noch ein anderes Element in Ihrer Situation, für das ich unwillkürlich besonders empfindlich bin; denn ich bin nicht nur eine Schriftstellerkollegin, sondern gehöre zu der gleichen Hälfte der menschlichen Gattung wie Sie. Sie wurden nicht nur als Schriftstellerin verurteilt. Sie wurden als Frau verurteilt. Sie sind Teil einer ehrenwerten Tradition von Frauen aus der islamischen Welt im zwanzigsten Jahrhundert. Vielleicht ist die ägyptische Schriftstellerin Nawal El Saadawi, Ärztin wie Sie, die Vorreiterin; sie schrieb bereits vor Jahrzehnten Bücher, die die Ausbeutung und Unterdrückung der Frauen anprangerten. Es gibt also, wenn ich so sagen darf, gar nichts Originelles in Ihren Forderungen. Und eben das spricht für Sie.
Tatsächlich geht es in Ihrem Martyrium nicht um Reaktionen auf ein Buch. Es geht noch nicht einmal um Religion. Bei dem, was Ihnen und Salman Rushdie geschah – und anderen, weniger publik gewordenen Verfolgungsfällen oder Morden an Schriftstellern und Journalisten in Algerien, Ägypten, Syrien, im Iran, Irak und vielen anderen Ländern – geht es um Politik. Ihre Verfolgung ist ein Instrument in den konkreten politischen Auseinandersetzungen in Bangladesch, wo so viele Formen von Unterdrückung und wirtschaftlichem Elend grassieren. Aber die politischen Gruppierungen, die Ihr Leben aufs Spiel setzten, haben große Ähnlichkeit mit den politischen Gruppierungen in den verschiedensten Ländern, die immer noch Kommandos nach England schicken, um Salman Rushdie zu töten. In der modernen Massenpolitik müssen die Massen „mobilisiert“ werden, und das geschieht meist mittels simpler und vernebelnder Slogans. Die Dämonisierung von Individuen, Hexenjagden und Schauprozesse sind billige Mittel, die Macht und die Anziehungskraft eines repressiven Aktivismus zu vereinen. Und das Erkennungszeichen einer repressiven Gesellschaft (oder der Unterdrückungsgrad innerhalb einer Gesellschaft) ist die Unterdrückung der Frauen. Diejenigen, die Sie anklagen, sind politische Opportunisten – sie erzeugen eine manipulierte Meinung über „Blasphemie“, um unterdrückte Menschen, Männer wie Frauen, davon abzulenken, zu erkennen, was sie verfolgt und ausbeutet.
Sie haben keine Revision des Koran gefordert, wie man Ihnen vorwarf. (Der Vorwurf ist natürlich grotesk. Was sollte das bedeuten, die Gründungsschrift einer Weltreligion zu „revidieren“?) Was Sie getan haben, war, einige Änderungen in der sharia zu empfehlen, einer über Jahrhunderte gewachsenen Gesetzessammlung, die Sitten und Gebräuche kodifiziert und die wie jede andere Gesetzessammlung Gegenstand von Revisionen und Reformen ist. So wie er formuliert wurde, ist der gegen Sie gerichtete Vorwurf der Blasphemie absurd – obwohl ich Sie auch würde verteidigen wollen, wenn man Sie zu Recht als Blasphemikerin bezeichnen könnte. Es ist wohl überflüssig zu betonen, daß ich Ihre Sache, eine Reform
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der sharia, unterstütze. Das heißt, daß ich Ihre Forderungen nach Freiheit für die Hälfte der menschlichen Gattung unterstütze, zu der wir schließlich beide gehören. Bangladesch kann keine gerechte Gesellschaft – für Frauen wie für Männer – werden, solange sich die Situation der Frauen nicht verbessert.
Wie ich es sehe, ist das, was Ihnen geschehen ist, nicht einfach ein weiteres Beispiel für die hochentwickelte Tradition des zwanzigsten Jahrhunderts, dissidente SchriftstellerInnen zu verfolgen. Es ist auch eine Frauenjagd. Wie während der Hexenverfolgungen, die jahrhundertelang in Europa stattfanden, sind in vielen islamischen Ländern vor allem Frauen zur Zielscheibe geworden – Frauen, die nicht duckmäuserisch und servil sind, Frauen, die sich trauen, ihre Meinung zu sagen, Frauen, die anders sind (oder scheinen). In Ihrem Namen werden sowohl alle Frauen als auch alle SchriftstellerInnen, die sich unabhängiges Denken leisten, verfolgt.
Mit wärmsten Solidaritätsgrüßen und in der Hoffnung, daß Sie in Ihrem Exil sicher sind und sich wohl fühlen
Susan Sontag
Aus dem Englischen von Barbara Häusler
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