: Moralische Vegetarier
Mit mehr oder weniger diplomatischem Geschick wehren Hoteliers und Politiker den Angriff nackter Haut auf den guten Geschmack ab ■ Aus Terracina Werner Raith
Franco, 48, Chef der Strandanlage „Il Campanile“ in Terracina, ist gerade wieder mal in diplomatischer Mission tätig: „Fleisch-Entzerrung“ nennt er das, wenn er, zum x-ten Mal innerhalb weniger Tage, Einzelpersonen oder ganzen Gruppen unter einigermaßen glaubwürdigem Vorwand andere Liegeplätze zuweist. „Du glaubst gar nicht, wie kompliziert das ist, und alles nur, weil kein Schwein mehr irgendwelche Regeln einhält.“ Die „Regeln“ nach denen Franco dürstet, beziehen sich vor allem auf das, was jemand als Mindestbedeckung am Körper haben sollte, um nicht beim Nachbarn allzu begehrliche Blicke zu wecken und so das eigene Gespons, die Verlobte, den Freund oder auch einen sittenstrengen Politiker zur Intervention zu veranlassen. Im konkreten Falle hat eine Stammkundin kategorisch verlangt, eine laut Franco „allzu appetitliche Nixe“ zu verscheuchen, die nicht nur ohne Oberteil Platz genommen hatte, sondern zumindest in Bauchlage auch noch das Hinterteil der Sonne und dem Blick der Halbwüchsigenschar preisgab, die Gnä' Frau als ihre Enkel und Neffen vorstellt. Andererseits kann Franco die „Nixe“ auch nicht gut mit Platzverweis belegen – ein Gutteil der herumlagernden Platzhirsche wäre dann wohl auch perdu, und bei Liegestuhl- und Sonnenschirmleihpreisen von umgerechnet 20 Mark pro Tag läppert sich da schon was zusammen.
Also befördert Franco die junge Dame mit Hilfe einer angeblich anstehenden Sandreinigung von ihrem Liegestuhl, gibt ihr, die sich immerhin in ihren Bikini gehüllt hat, artig an der Theke einen Eistee aus, führt sie persönlich an ihren neuen, ein wenig abseits gelegenen, Platz und ist das Problem erst mal los. „Das waren noch Zeiten“, sagt er dann und atmet tief durch, „als die Damen bezahlten, damit man sie nicht zu Gesicht bekam.“ Seine Mutter war eine der ersten, die damals, nach dem Krieg, vor ihrer Terrasse und am Strand Leintücher als Sonnenschutz aufspannte – „und Vater baute rundherum mit Binsenmatten eine Art Paravent auf, um die Städterinnen den neugierigen Blicken fleischhungriger Terracinesen zu entziehen.“
Derlei Schamhaftigkeit hat sich freilich schon in den 50er Jahren gelegt – „da entwickelte sich unser Gebiet, so recht in der Mitte zwischen dem mondänen Rom und dem sinnenfrohen Neapel gelegen, zum Geheimtip von Ausländern: Deutsche, Schweizer, aber vor allem Schweden kamen hierher, und die brachten eine ganz andere Freizügigkeit mit als unsere angestammten Kunden.“ Große Hotels wuchsen am Strand empor, Reisegesellschaften bezogen von Juni bis September Quartier, Mutters Leintücher wurden durch Sonnenschirme ersetzt, „Paravents wollte von den Nordvögeln niemand mehr“. Im Gegenteil: Sich zeigen und gesehen werden gehörte, wie sich der mittlerweile angegraute Kellner Giancarlo vom „Torre del sole“ erinnert, „sozusagen mit zum Grundbestandteil des Reiseerlebnisses.“ Die legendären Papagalli, früher auf Anmache in den Straßen und vor Geschäften spezialisiert, wurden zu ständigen Strandläufern, der Bikini schrumpfte zusehends, in den 60er Jahren war das Oberteil vor den größeren Hotels praktisch verschwunden.
Doch was die Etablissementbetreiber zunächst als Zugnummer ansahen und zur Geschäftsmehrung nutzten, erwies sich, so Franco, „auf die Dauer eher als kontraproduktiv“: Ständig kam es zu Auseinandersetzungen um das, was schicklich ist und was erlaubt war. Mitunter spielten die Auseinandersetzungen tief in die Gemeindepolitik hinein: Der Bürgermeister einer Nachbarstadt weigerte sich zwei Jahre lang sogar, den Strand säubern zu lassen und die Lizenzen für Bars und Liegestuhlverleih zu erneuern – weil sich die Etablissements nicht auf eine gemeinsame Linie in Sachen Fleischbeschau einigen konnten.
Erst die 70er und frühen 80er Jahre waren dann „von einer Art Koexistenz geprägt“, erzählt der seit 1972 pensionierte Gemeindepolizist Ezio Persiani, der in seiner aktiven Zeit jährlich „gut und gerne drei- oder vierhundert Anzeigen“ wegen sittlichen Anstoßes zu bearbeiten hatte: „Da lagen dann Nackte – auch solche ohne alles – neben Bikini- und Body-Trägerinnen, die so gut es ging wegguckten und lieber ihre Männer und Freunde im Auge behielten, ob auch die gefälligst ihre Augen im Zaum hielten.“
Neuerdings bekommt jedoch, was sich behutsam als friedliches Nebeneinander von Totalbeschau und züchtiger Busen- und Po-Bedeckung herauszubilden begann, erneut Risse: „Da tauchen plötzlich angebliche Gesundheitsschützer auf“, empört sich Carlo, Francos Bademeister, „und schwätzen auf freizügig bekleidete Menschen ein, sie würden sich Hautkrebs und werweißnochwas holen, und wenn die sagen, es sei ihnen wurscht, beschimpfen sie sie auch noch als Volksschädlinge, weil sie dann den Krankenkassen zur Last fallen.“ Wenn nicht alles täuscht, hat die Mode aber sowieso schon eine gewisse Wende genommen: Raffiniert geschnittene Trikots lassen wieder mehr ahnen als sehen.
Franco wäre es sowieso lieber, man käme wieder ein wenig mehr zu alten Zeiten zurück: „Wer am Strand liegt oder herumtollt, sollte sich an der Sonne, am Wasser, am Strand freuen, seinen Körper genießen und nicht auf Effekt und Erfolg zielen.“ An die Pinnwand am Eingang, an der Hinweise auf Veranstaltungen und Termine hängen, hat jemand einen roten Zettel geklebt: „Geröstet' Fleisch tut nur dem Magen gut und nicht auch deinem Busen.“ Franco hat den Zettel hängen lassen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen