Seit Mitternacht ruhen in Nordirland die Waffen der Irisch-Republikanischen Armee (IRA) – eine Zäsur in einem der ältesten Konflikte auf europäischem Boden  ■ Aus Dublin Ralf Sotscheck

Die Irisch-Republikanische Armee (IRA) hat um Mitternacht die Waffen niedergelegt. Wie allgemein erwartet worden war, wurde gestern mittag eine Erklärung der militärischen Führung der IRA verbreitet, in der es hieß, alle Einheiten der IRA seien angewiesen worden, jegliche militärischen Operationen einzustellen. Von einer zeitlichen Befristung der Waffenruhe ist nicht die Rede.

Zwar kam der Waffenstillstand letztlich überraschend, doch der Prozeß, der dazu führte, begann bereits vor acht Jahren. Damals beschloß Sinn Féin, der politische Flügel der IRA, den Boykott des Dubliner Parlaments aufzugeben. Die Partei gewann in Nordirland zwar regelmäßig elf bis zwölf Prozent der Stimmen, war damit jedoch an die Grenzen ihrer Möglichkeiten gestoßen. Wenn sie ihren Einfluß vergrößern wollte, so konnte das nur über einen Zuwachs im Süden funktionieren. Diese Taktik blieb freilich in den Startlöchern stecken: 1987 war ein katastrophales Jahr für Sinn Féin und IRA. Die französische Marine beschlagnahmte ein Schiff mit libyschen Waffen und Munition, die für die IRA bestimmt waren, und in der Republik Irland hob die Polizei ein Waffenlager nach dem anderen aus. In Nordirland geriet eine IRA-Einheit in einen Hinterhalt, acht Mitglieder wurden von der Sondereinsatztruppe SAS erschossen. Die weitreichendsten Konsequenzen hatte jedoch der rücksichtslose IRA-Bombenanschlag auf eine Gedenkfeier für die Weltkriegstoten in Enniskillen, bei dem elf Protestanten getötet wurden. Sinn Féin wurde danach von sämtlichen Parteien in Großbritannien und Irland geächtet, die Friedensinitiative, die Sinn Féin sechs Monate zuvor eingeläutet hatte, ging völlig unter. Dabei enthielt sie erste Anzeichen für Kompromißbereitschaft: Sinn Féin forderte darin eine gesamtirische Verfassungskonferenz, um politische Lösungsvorschläge auszuarbeiten.

Trotz des Bannes über Sinn Féin nahm John Hume, der Vorsitzende der gemäßigten nordirischen Sozialdemokratischen und Arbeiterpartei (SDLP), zwei Monate nach dem Anschlag von Enniskillen Gespräche mit Sinn-Féin- Präsident Gerry Adams auf. Zwar wurde der Kontakt später abgebrochen, doch der Grundstein für die Wiederaufnahme im vergangenen Jahr, die schließlich zu einem gemeinsamen Positionspapier führte und die Regierungen in London und Dublin in Zugzwang brachte, war gelegt. Gleichzeitig intensivierte die IRA 1988 ihre Bombenkampagne auf dem europäischen Festland und in England. Die britische Regierung strich daraufhin das Recht auf Aussageverweigerung und verbannte Sinn Féin aus Radio und Fernsehen — eine Maßnahme, die sich als Farce entpuppte: Sinn-Féin-Mitglieder werden seitdem von Schauspielern synchronisiert. Doch die Londoner Regierung legte auch einen Köder aus. Der damalige Nordirland-Minister Peter Brooke räumte ein, daß die IRA militärisch nicht zu besiegen sei und versprach eine „ideenreiche und flexible Antwort“ auf eine eventuelle IRA- Waffenruhe.

Während Sinn Féin 1990 mit der britischen Regierung öffentlich um die Vorbedingungen für direkte Gespräche stritt, fanden diese hinter den Kulissen längst statt. Als Brooke in einem Interview erklärte, Großbritannien habe kein „strategisches oder wirtschaftliches Interesse“ an Nordirland, verkündete die IRA über Weihnachten zum ersten Mal seit 15 Jahren einen dreitägigen Waffenstillstand. Und Sinn Féin gab sich im folgenden Jahr noch kompromißbereiter: Führende Parteimitglieder betonten, daß Sinn Féin Gewalt nicht unterstütze und nicht mehr länger für die IRA spreche. Darüber hinaus räumte man zum ersten Mal ein, daß die Zustimmung der Unionisten – sie treten für die Union mit Großbritannien ein – für eine Lösung in Nordirland unerläßlich sei.

Unterdessen gingen die Geheimkontakte zwischen Sinn Féin und der britischen Regierung weiter. Durch diese Kanäle versicherte London der IRA, daß man es „im Gegensatz zu 1975, als der Waffenstillstand scheiterte, diesmal ernst“ meine. Die britische Regierung bot direkte Gespräche im Gegenzug für einen befristeten IRA-Waffenstillstand an. Gleichzeitig forcierte sie die Verhandlungen mit der Dubliner Regierung, die im vergangenen Dezember in der „Downing-Street-Erklärung“ resultierten. Darin erkannten beide Regierungen das „Recht des irischen Volkes auf Selbstbestimmung“ an, schränkten jedoch ein, daß am Status quo nur gerüttelt werden könne, wenn eine Mehrheit in Nordirland dies wünsche.

Die Erklärung stürzte Sinn Féin in ein Dilemma: Einerseits wies die überwältigende Mehrheit der Parteibasis das Dokument als völlig unzureichend zurück, andererseits riskierte man bei einer Ablehnung die erneute politische Isolation und eine konzertierte Aktion der britischen und irischen „Sicherheitskräfte“ gegen die IRA. So spielte Sinn Féin zunächst auf Zeit und verlangte nähere Erläuterungen zu dem Dokument, fällte aber auch danach kein endgültiges Urteil. Als sich alle bereits mit einer Pattsituation abgefunden hatten, kam mit dem Besuch einer inoffiziellen US-Delegation vor einer Woche eine neue Dynamik in den Friedensprozeß, der gestern schließlich in dem IRA-Waffenstillstand gipfelte.

Der IRA-Veteran Joe Cahill, der 1942 wegen Polizistenmordes zum Tode verurteilt und dann begnadigt worden war, ist gestern in den USA eingetroffen, um den Sympathisanten dort die IRA-Entscheidung zu erklären. Schließlich waren es nicht zuletzt die Gelder aus den USA, die den Krieg in den vergangenen 25 Jahren finanziert haben. Michael Flannery, der 92jährige Gründer einer Unterstützerorganisation, hat sich geweigert, mit Cahill zu sprechen, weil er den Waffenstillstand als Verrat empfindet. Es kommt jetzt auf die Reaktionen der britischen und irischen Regierung an, ob diese Stimmen auch in der IRA laut werden.