: Schmelztiegel für die Hauptstadt
„Der Stoff, aus dem Berlin gemacht ist“ – eine taz-Reihe (letzter Teil): Im Stahlwerk Brandenburg, dem größten Stahlproduzenten der DDR, wird die Stahlkocherzeit musealisiert ■ Von Rolf Lautenschläger
Der Schein trügt. Was von ferne noch funktionstüchtig aussieht – eine Silhouette großer Hallen und elf aneinandergereihter Schornsteine – erweist sich bei näherer Betrachtung als Industrieruine. Die riesige, 500 Meter lange Gießhalle des Stahlwerks Brandenburg gleicht einem gähnend leeren, halbzerstörten Kirchenschiff. Die geschlossenen Brennöfen schlafen. Kräne, Pfannen und Arbeitsbühnen bilden eine rostig gewordene tote Dingwelt.
Wo noch bis 1989 jährlich über 2,5 Millionen Tonnen Stahl produziert wurden und die Brandenburger „Knochenmühle“ 10.000 Stahlkocher beschäftigte, fällt heute als einziges Lebenszeichen nur noch fahles Licht auf stillgelegte Öfen. Im benachbarten Walzwerk ist es nicht anders. Die Eisenhalle erinnert an ein morbides Gerippe, an Bilder gestrandeter Raumschiffe auf unbewohnten Planeten. Und selbst die elftürmige Schornsteinbatterie, Wahrzeichen der Stahlwerker sowie der Stadt, bröckelt.
1993 gingen in Werk I die zwölf Brennöfen aus. Werk II, das 1980 gebaute Elektro-Stahlwerk auf dem Areal gegenüber, ging an den italienischen Riva-Konzern, der dort auf kleiner Flamme weiterkocht. Unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten erschien Werk I unrentabel, entschied die Treuhandanstalt und entließ die Mitarbeiter. Außerdem verkauft sie seither Stück für Stück der alten Industrieanlagen und großen Freiflächen an Investoren, die sich vom „Industrie- und Gewerbepark Brandenburg“ eine Zukunft versprechen. Viel ist es nicht, was sich entlang der alten, baumbestandenen Werksallee angesiedelt hat. Das Gelände wird vom Rost geprägt, das Werk, das einst den Eisenschrott Berlins zerschmolz und in Stahl recycelte, ist selbst zu Schrott geworden.
Der „Stoff, aus dem Berlin gemacht ist“, war im Brandenburger Eisen-Stahl-Recycling-Verfahren kaum wirtschaftlicher produziert worden. Die Großstadt diente als Rohstofflieferant und Absatzmarkt zugleich. Aus dem Werk kamen: der Baustahl, der Hochbaustahl, Kesselbleche und Feinbleche für Berlin, Eisenkonstruktionen für den Brückenbau, Lokomotiv-, Waggon- und Autobau, Berliner Dampf- und Pumpenhäuser. Aus Brandenburger Stahl wurden die Elbbrücke bei Tangermünde und die S-Bahn-Brücke am Bahnhof Zoo gebaut. 1912 hatte der Industrielle Rudolf Weber das Grundstück in Brandenburg an der Havel gekauft. Der Ort vor den Toren der Reichshauptstadt war mit Kanälen, Straßen und Schienenwegen gut erschlossen und außerdem preiswert. Webers Absichten waren innovativ: Er band das Stahlwerk nicht an traditionelle Standorte der Erz- und Kohlevorkommen an, sondern an die Großstadt und deren Schrottvorkommen. Gleichzeitig setzte er neue Techniken ein, die bei geringem Einsatz guten Stahl erzeugten. Noch 1913 legte der clevere Geschäftsmann den Grundstein für das Stahlwerk. 1914 erfolgte der erste Abstich. Statt der alten Tiegelöfen brannte Weber mit dem „Siemens-Martin- Verfahren“ – eine Technologie, die mittels Regenerativ-Feuerung die Temperatur des Ofens auf 1.800 Grad Celsius steigern konnte. Der Stahl (Eisen unter Zusätzen von Kohle und Kalk) wurde dadurch flüssiger, konnte besser zubereitet und leichter verarbeitet werden. Nach acht Stunden Schmelze wurde der Ofen abgestochen, die weiße Stahlsuppe über Pfannen in Blöcke gegossen und im Walzwerk zu glühenden Schlangen gepreßt.
1927 übernahm Friedrich Flick die Mitteldeutschen Stahlwerke in Brandenburg. In den 30er Jahren brannten sieben Siemens-Martin- Öfen, die nicht nur für den Bau der Reichshauptstadt schmolzen. Flick produzierte auch Panzerkuppeln und -gehäuse, Teile für Motoren, Ketten und Geschütze. Nach der Demontage des Werkes als Reparationsleistung an die Sowjets 1947 wiederholte sich die Geschichte des Stahlwerks unter sozialistischen Vorzeichen. 1950 wurde der Grundstein für die neue Gießhalle gelegt, die Schornsteine parallel zum Silo-Kanal plaziert und dem VEB Stahl Brandenburg Walzstraßen und Drahtziehereien angegliedert.
Die Stadt lebte vom Werk, das gleichzeitig seine Emissionen über den Dächern Brandenburgs ausschüttete. Für die Hauptstadt der DDR, beispielsweise den Fernsehturm und den Palast der Republik, wurde Brandenburger Stahl verwendet. 1980 war das Werk mit dem fast Fünffachen seiner ursprünglich geplanten Kapazität zum größten Stahlproduzenten der DDR geworden. Die Brandenburger zeigten das: Breite Straßen führten die Arbeiter ins Werk. Bis zur Stillegung am 13. Dezember 1993 schmolzen die Stahlkocher 63 Millionen Tonnen Rohstahl in der Glut.
Die Ruhe ist nur eine scheinbare. Die Stillegung des Werkes nutzen nun frühere Mitarbeiter dazu, Zeugnisse der industriellen Entwicklung des Stahlwerks für das „Industrie-Museum Brandenburg“ zu erhalten. Es ist ein mühsames Geschäft, die Teile der achtzigjährigen Sozial- und Technik- Geschichte der drohenden Abrißbirne zu entreißen. Ein Siemens- Martin-Ofen etwa soll in das denkmalwerte Verwaltungsgebäude. Im Fundus befinden sich Werkzeuge der Stahlherstellung und -verarbeitung, Stahlprofile und Ofenbaumaterialien sowie Forschungsberichte der Stahlwerkserweiterungen vor und nach dem Zweiten Weltkrieg.
Ein Museumskonzept unter dem Takt der Abrißbirne aufzubauen aber erscheint absurd. Vielmehr müßte für ein lebendiges Industriemuseum die Symbiose zwischen Stadt und Werk wiederbelebt werden. Seine Lage auf dem Gelände mitten in der Stadt erfordert Strategien der Erneuerung, nicht bloß der Musealisierung der heroischen Stahlkocherzeit. Vorbilder der Verwandlung, etwa aus dem Ruhrgebiet oder dem Emschergebiet, könnten helfen, ein Konzept mit neuem Stoff zu finden.
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