„Eine ungerichtete Wimmelbewegung“

■ Die Blaue Karawane geht weiter. taz-Gepräch mit dem Organisator Klaus Pramann über Miese, Masken und Motive

Vom 10. August bis zum 3. September zog eine „Blaue Karawane“ durch die Lande, von Leipzig nach Bremen, angeführt von einem sehr großen blauen und schwimmfähigen Kamel. Und niemand wußte so recht, was dieser symbolstarke Zug sollte und wollte, schon gar nicht die mitreisenden StudentInnen, Lehrer, seelisch und psychisch Behinderte und deren Betreuer sowie mitreisende Journalisten. „Grenzen im Kopf überspringen“ hieß die lose Klammer, sowie „gegen die Ausgrenzung von Randgruppen!“ Immerhin schlossen sich bei diesem Zug Menschen zusammen, die sich sonst vermutlich nie begegnet wären, und wie's scheint, auf Dauer. Was diese bereits zweite Blaue Karawane war, werden erst die Geschichtsschreiber wissen. Von Klaus Pramann, Nervenarzt, zentrale Figur in der Karawane sowie einer der Organisatoren, wollte die taz schon einmal ein persönliches Resumée haben.

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taz: Wieviel Geld hast Du persönlich in die Blaue Karawane gesteckt?

Klaus Pramann: Das ist eine Zahl mit fünf Nullen.

Wirst Du je was davon wiedersehen?

Darüber habe ich noch nicht nachgedacht.

Du hast während der Blauen Karawane öfter eine Halbmaske getragen. Warum?

Mit der Maske sind Grenzüberschreitungen möglich im Sinne einer Befreiung. Man kann Leute ansprechen, auf sie zugehen, sie sogar brüskieren, man kann einfältig sprechen. Die Maske erlaubt, Angst in Energie umzuwandeln.

Angst in Energie: ein Motto für die Karawane?

Ja, das hängt dort sehr hoch. Und es entspricht meiner Erfahrung in der Anstaltspsychiatrie in Blankenburg. Damals mußte ich z.B. öffentlich vor Fachleuten reden. Aus der Überwindung der Angst läßt sich positive Energie gewinnen. Man wird bestärkt, sich im Widerstand zur Hauptströmung zu bewegen.

Blankenburg gibt's nicht mehr. Warum heute Widerstand?

Die Leute sind heute draußen, es gibt das Betreute Wohnen, die Bevormundung ist heute nicht mehr so entwürdigend. Es gibt den Sozialpsychiatrischen Dienst, die Betreuer, das Krankenhaus Ost. Die Neue Psychiatrie ist nicht mehr so häßlich, sie sieht gut aus. Sie ist enorm dienstbar und funktioniert wie geölt. Was aber durch die Routine verloren geht, ist die Solidarität mit den Ausgegrenzten. Das Berufsbild „Betreuer“ wirkt heute, als ob das was Gutes wäre. Dabei wird man selbst zum Mitläufer und Ausgrenzer.

Wie geht das?

Zum Beispiel ich selbst: Ich bin Ausgrenzungsfunktionär. Menschen geraten in eine Notlage aus verschiedensten kulturellen und sozialen Gründen; ich reduziere das auf seine psychiatrischen Inhalte und fälle eine medizinische Entscheidung. Ich weise auch ein. Ich bin für eine Liquidation des Krankenhauses - und weise ein!

Das Motto der Karawane war „Grenzüberschreitung“. Welche Grenze wurde überschritten?

Zum Beispiel beim Frühstück. Da saßen Lehrer mit Menschen am Tisch zusammen, die beim Essen einen Anfall bekommen. Da werden dann selbstverständlich ein paar Tassen beisete gerückt, da braucht man nicht viel zu sprechen - es geschieht ein Solidarisierungseffekt.

Wofür oder wogegen?

Gegen die Verbiegung unseres Menschenbildes! Wir haben das gesehen, als wir am Samstag mit der Karawane an der Abschiebehaft in der Ostertorwache vorbeizogen. Das viehische Verhalten der Beamten dort: Sie glauben, was Richtiges zu tun. Es ist die ewig gleiche Diskussion, die ich aus der Psychiatrie kenne: die Wut der Betroffenen auf die Behörde, die Sprüche der Politiker: „Sicher, die Unterbringung ist nicht optimal“. Wir dagegen sagen: Ihr handelt nicht in unserem Auftrag. Ihr verbiegt unser Menschenbild.

In Leipzig, Torgau, Wittenberg hieß Grenzüberschreitung in erster Linie: von West nach Ost bzw. umgekehrt.

Bei der Vorbereitung hatte ich gedacht, die halten die Karawane für luxuriösen Quatsch von Wessies. Ich war von den Kulturbeauftragten in Leipzig und Torgau und z.B. auch von den Verkehrsbetrieben in Magdaburg angenehm berührt: Die fanden das interessant und haben sich dafür geöffnet, weil wir von unseren eigenen Sorgen geredet haben, unseren eigenen Grenzen im Kopf. Und nicht über Psychiatriereform.

Es gab eine Anzahl heftiger Angriffe Mitreisender bei der Karawane gegen das offene Konzept „Für die Ausgegrenzten, gegen die Grenzen im eigenen Kopf“. Die erste Blaue Karawane hatte ein klares Ziel: Auflösung der Irrenhäuser.

Richtig, die Karawane war eine ungerichtete Wimmelbewegung. Aber Leute, die vorher mit der unklaren Zielvorstellung nicht zurecht kamen, haben heute schon Entzugserscheinungen. Und wie viele Menschen hier in Bremen uns begrüßt haben! An der Weser einige hundert, auf dem Marktplatz waren tausend. Die kommen nicht wegen der Psychiatriereform. Da sind die Bremer weit drüber hinaus.

Warum kommen die Bremer?

Die meisten gefühlsmäßig: In uns sind Ecken angesprochen, die uns in Bewegung kommen lassen. Weg vom Alltag. Die Erfahrungen mit dem Blaumeier Theater als Grenzüberschreiter spielen dabei sicher eine wichtige Rolle.

Wo ist der Unterschied zwischen Karawane und Karneval?

Vielleicht gibt es Ähnlichkeiten in den Wurzeln. Das Blaue Kamel heißt ja auch „Narrenschiff“. Allerdings vermitteln die Symbole etwas anderes; es geht neben dem Spaß auch um ernsthafte Anliegen, um Solidarisierung.

Wie sieht die Zukunft der Blauen Karawane aus?

Bei unseren Diskussionen hier in Bremen mit den Studenten aus Ottersberg, den Lehrern, dem ehemaligen Staatsrat (Manfred Osthaus / B.S.) war klar: Es geht weiter. Wenn erst die Defizite der letzten Karawane bewältigt sind (sechsstellig / B.S.), werden wir über neue Inhalte, Gestaltung und Symbole reden. Wahrscheinlich wird die nächste Aktion länger an einem Ort sein, mit mehr Zeit für die künstlerische Gestaltung.

Und Deine Zukunft?

Ich sehne mich nicht gerade nach meinem Beruf. Aber ich weiß ja: Die Karawane geht weiter.

Interview: Burkhard Straßmann

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Die letzten Karawanen-Termine am/ab Osterdeich:

Samstag, 3.9.1994, 10 Uhr: Die Karawane zieht in die Innenstadt

12 Uhr: Aktion in der Innenstadt

16 Uhr: Lexis, „ein Clown für unsere Erde“

20 Uhr: Abschlußfete mit théÛtre du pain und Copihue (Chile)