: Kunst lebt vom Reichtum
■ Wird Berlin wieder zum Magneten für russische Künstler?
Tatjana Forner ist die Vorsitzende des russischen Kulturvereins Dialog e.V. Die 48jährige Chemikerin und Philosophin lebt seit 1969 in Ost-Berlin. 1988 hat sie den Verein „Dialog“ gegründet, dem inzwischen etwa 120 Mitglieder aus verschiedenen Nationen angehören. Zwischen 1990 und 1994 war Tatjana Forner auch Kulturreferentin des Hauses der Wissenschaft und Kultur der russischen Föderation.
taz: In den zwanziger Jahren lebten in Berlin mehr als 300.000 russische Bürger, und viele bekannte Künstler wie Pasternak, Nabokov, Kandinsky, Chagall haben zumindest zeitweise hier gewirkt. Wie groß ist heute der Anteil der Künstler unter der russischen Minderheit in Berlin?
Tatjana Forner: Die Parallele zu den zwanziger Jahren ist ein bißchen künstlich. Es gibt sicherlich bestimmte Analogien oder ähnliche Erscheinungen, aber die Situation ist zur Zeit gänzlich anders. Erstens ist damals eine Riesenkolonie nach Berlin gekommen. Zwischen 1921 und 1923 lebten hier fast 360.000 russische Bürger. Berlin war die führende Stadt der russischen Migration in der Welt. Jetzt sind es nur 15.000, wenn wir die deutschstämmigen russischen Bürger dazuzählen sind es ungefähr 35.000. Zweitens reisten damals meistens Menschen, die Kulturträger waren. Es waren Intellektuelle, Adlige, viele Professoren. 80 Prozent der Migranten gehörten der gebildeten Schicht an. Es waren zum Teil auch Reiche, die ihr Vermögen nach Deutschland retten und davon leben konnten. Diese russische Kolonie hat damals eine eigene Infrastruktur geschaffen. Dazu gehörte auch Kunst. Es gab in dieser Kolonie auch Gelder, um diese Kunst zu fördern. Jetzt ist die Situation ganz anders. Wer aus Rußland kommt, braucht Geld. Wir sind alle gleich arm.
Die Künstler kommen jetzt auf verschiedenen Wegen hierher. Es gibt Künstler, die schon hier leben und sich etabliert haben. Dazu gehört zum Beispiel der Schriftsteller Friedrich Gorenstein. Er lebt und schreibt hier. Seine Werke werden ins Deutsche übersetzt. Es gibt auch einige Maler, die schon mehrere Ausstellungen in Berlin hatten. Zum Beispiel Juri Zurkan. Er gehört zu den jüdischen Einwanderern in Berlin. Oder auch Michail Schnittman. Das sind zwei gute Künstler, die seit den siebziger Jahren in Berlin leben und viele Ausstellungen organisiert haben. Der zweite Weg, wie die russischen Künstler nach Berlin kommen, ist die offizielle Einladung durch den Deutschen Akademischen Austauschdienst. Das rechne ich dieser Organisation sehr hoch an, weil die Situation unserer Intellektuellen zur Zeit in Rußland verheerend ist. Die Unterstützung der namhaften oder weniger namhaften Künstler in diesem Gebiet ist sehr positiv. Der Vorsitzende des russischen Pen- Clubs, Andrej Bitov, war hier, und der Regisseur Alexander Askoldov arbeitet zur Zeit in Berlin. Es gibt auch Maler und Wissenschaftler, die mit einem Stipendium hier leben. Der dritte Weg für Künstler, die kein Geld und keinen Namen haben, ist die private Einladung. Sie kommen nach Deutschland, versuchen hier etwas zu machen. Es gibt viele Maler und Musiker, die so in die Stadt kommen. Berlin hat sich in den letzten anderthalb Jahren in bezug auf Straßenmusikanten sehr verändert. Ich sehe überall russische Musiker.
Wird es demnächst wieder eine starke russische Künstlerkolonie in Berlin geben?
Es ist zu früh, über Kolonie zu sprechen. Es gibt Kreise, die sich um bestimmte Persönlichkeiten gruppieren. Da ist zum Beispiel die Galerie von Tatjana Herrman hier im Ostteil der Stadt. Die „Tinatin- Galerie“ in Pankow stellt mehr georgische und armenische Künstler aus. Bei dem Aufbau jüdischen Lebens in Berlin sind natürlich auch russische Juden beteilgt. In diesem Zusammenhang ist die jüdische Galerie in der Oranienburger Straße unbedingt zu erwähnen. Das sind die Bezugspunkte.
Hat es mit dem Zerfall der Sowjetunion zu tun, daß immer mehr Künstler ihr Land verlassen?
Teilweise ja, aber vor allem mit der verheerenden ökonomischen Lage der Künstler. Die gesamte ökonomische Situation ist furchtbar, und das trifft in erster Linie die Künstler, weil sie eigentlich vom Reichtum leben. Wann wird Kunst gekauft, wann wird Musik gehört? Wenn Menschen Geld haben. Wenn sie nicht mal Geld für Brot haben, dann gibt es auch kein Geld für die Kunst. Sie versuchen ihr Glück dann in Deutschland und anderswo.
Betrachten die meisten russischen Künstler Berlin als Zwischenstation?
Es wird davon abhängen, wie die Situation sich in Deutschland entwickeln wird. Ob es sich ökonomisch lohnt, hierzubleiben. Ob weiterhin Kunst gekauft wird. Wie sie sich in diese Gesellschaft einfügen und aufgenommen werden. Es wird Künstler geben, die hier Erfolg haben, und es wird welche geben, die wieder zurückgehen oder zwischen Rußland und Deutschland pendeln. Kunst ist eine internationale Sache. Man sollte die Grenzen abschaffen.
Wie sind die Arbeitsbedingungen russischer Künstler in Berlin?
Sehr unterschiedlich. Die russischen Künstler werden nicht nur von russischen, sondern auch von deutschen Galerien aufgenommen. Viele haben verstanden, daß man mit guter russischer Kunst Geld verdienen kann. Deswegen haben viele diese Künstler aufgenommen. Wie gut die Bedingungen für russische Künstler sind, welchen Anteil sie an Galeristen führen müssen, ist eine andere Frage. Es gibt Künstler, die in Obdachlosenheimen übernachten müssen. Es gibt aber auch welche, die hier eine Wohnung haben und normal arbeiten. Das hängt vom Bekanntheitsgrad ab.
Wie ist das Verhältnis zu den deutschen Kollegen, findet da ein Austausch statt?
Austausch setzt voraus, daß man die Sprache gut beherrscht. Wenige Künstler können richtig Deutsch. Künstler sind sowieso Individualisten und keine Gruppenmenschen. Es entstehen Kontakte, wenn man eine Ausstellung organisiert oder versucht, einen Lektor zu finden. An sich leben sie mehr oder weniger isoliert oder versuchen, mit Landsleuten in Kontakt zu treten.
Haben sie Schwierigkeiten, sich in die deutsche Gesellschaft zu integrieren?
Integration ist ein sehr schwieriger Prozeß. Sie findet nicht so schnell statt. Die ersten fünf, sechs Jahre muß man an sich und der Gesellschaft arbeiten. Die Frage ist, welche Perspektiven man sieht. Wenn man sich entschieden hat, hierzubleiben, ist man besser motiviert. Diese Menschen lernen die Sprache und suchen Kontakte. Wenn Leute nicht wissen, ob sie hierbleiben, versuchen sie das Beste aus der Übergangsphase zu machen, wollen aber keine tieferen Wurzeln schlagen.
1923 erschienen 39 Zeitschriften und drei Tageszeitungen in russischer Sprache in Berlin. Wie ist das heute, gibt es russischsprachige Publikationen in der Stadt?
Es gibt eine Zeitung, die seit einem Jahr herausgegeben wird: Ewropa-Zentr. Vor kurzem ist auch ein neuer literarischer Almanach mit dem Titel „Ostrov“ (Die Insel) erschienen. Er wird von einem bekannten Künstler, Wjatscheslav Sejssojv, herausgegeben. Sejssojv war ein Dissident und wurde aus der Sowjetunion verbannt. Er hat mit seiner Frau und einigen bekannten Schriftstellern und Publizisten wie Juri Ginsburg, Jewgeni Popov, Dimitri Sorokian und Olga Gura die erste Ausgabe herausgebracht. Dieses erste Heft enthält Arbeiten von Journalisten und Schriftstellern, die in ganz Europa leben. Eine Dichterin aus Moskau, eine Künstlerin aus Paris und zwei Journalisten aus Moskau haben Beiträge geschrieben. Es gibt auch einen Beitrag aus Israel und einen aus Deutschland. Interview: Ayhan Bakirdögen
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