: "Wir wollen einen freien Markt!"
■ Die Oderblockade spitzt sich zu / Die polnischen Binnenschiffer möchten ihren Marktvorteil nutzen, die deutschen fordern eine Kontingentierung der Transporte, beide Seiten fürchten um ihre Existenz / ...
Die Oderblockade spitzt sich zu / Die polnischen Binnenschiffer möchten ihren Marktvorteil nutzen, die deutschen fordern eine Kontingentierung der Transporte, beide Seiten fürchten um ihre Existenz / Einblick in einen deutsch-polnischen Konflikt
„Wir wollen einen freien Markt!“
Von Szczecin die Oder aufwärts in den Oder-Havel-Kanal, über Schwedt und Berlin weiter zur Elbe, durch das westdeutsche Kanalgebiet, dann rheinaufwärts bis Mainz und auf dem Main bis nach Würzburg. Diesen Weg wollte die „Oberon“ schippern. Eigentlich. Jetzt liegt sie fest. Keine Bugwelle schäumt um die breite Nase des Schubbootes, dafür macht sich Entengrütze in dicken, hellgrünen Klumpen breit. Die sammelt sich nur bei ruhigem Wasser. „Du kannst weder flüchten noch laden“, brummt Kapitän Helmut Hoffmann aus Minden an der Weser, „du kannst dich nur ruhig verhalten und abwarten.“
Seit sieben Tagen blockieren polnische Binnenschiffer die Oder in Szczecin (Stettin). Die Fahrrinne ist abgeriegelt. Zwischen der Stadt- und der Eisenbahnbrücke liegen die Kähne dicht an dicht, mal zu zweit, mal zu viert, mal zu siebt nebeneinander. Rund vierzig sind es jetzt, alle paar Stunden kommen neue hinzu. Eine riesige graue Fläche, unterbrochen von bunt bemalten Führerhäuschen. Da gelangt man vom Ufer mühelos und trocken bis in die Mitte des Flusses, ohne auf dem Wasser zu wandeln: über Holzrampen von Boot zu Boot.
Zwischen Fahnenstangen ist ein Transparent gespannt: „Akcja Protestacyjna“. „Nein zum deutschen Kontingent für die Binnenschiffahrt.“ Sechs Frachter aus der Bundesrepublik verlieren sich am Rande der polnischen Flotte. Hier fährt nichts mehr, noch träger als sonst schieben sich die Wasser der Oder an den Kähnen vorbei.
„Ich muß stehen und stehen“, knurrt Schiffsführer Dabrowski, der gerade aus der Stadt auf seine PM 3502 zurück kommt, „es ist ganz schlecht.“ Dabrowski, ein schmaler Mann um die fünfzig, und sein 600-Tonnen-Schubboot kommen aus Bydgoszcz (Bromberg), rund 300 Kilometer weit weg von Szczecin. Der Frachter befördert Zement, Klinker oder Kies, jetzt hat er Splint geladen, mit dem er nach Berlin-Spandau will.
Irgendwann später. Denn vorerst demonstrieren Dabrowski und seine PM 3502 in Szczecin gegen die Transportquoten, die die Bundesrepublik für polnische Schiffe eingeführt hat. Seit 1. September sollen nur noch 250 Binnenschiffer pro Monat die Grenze nach Deutschland passieren dürfen. „So können wir nicht leben“, sagt Dabrowski, „das ist Arbeit für höchstens ein Drittel des Monats.“ Dieses Thema reizt ihn nicht gerade zum Plaudern, schnell verschwindet er irgendwo auf seinem 57 Meter langen Kahn.
Seit November 1993 gibt es ein deutsch-polnisches Abkommen, das das Frachtaufkommen zwischen den beiden Ländern je zur Hälfte auf deutsche und polnische Schiffe verteilen soll. Bisher übernahmen die polnischen Schiffer rund 90 Prozent des Transports. Was sie wollen, ist einfach: Es soll so bleiben.
„Natürlich ist das verständlich“, meint Schiffsführer Hoffmann aus Minden, der zwischen den Brücken — am Kai einer Fischfabrik, die seit kurzem einer deutschen Firma gehört — die Blockade abwartet. „Sie lebten bisher in einer Welt ohne Konkurrenz. Haben Berlin fast alleine beliefert. Die polnische Binnenschiffahrt lebt vom Export nach Deutschland.“ Jahrelang hätten er und seine Kollegen das hingenommen. Doch seit der Bundesverkehrsminister als Deregulierungsmaßnahme die Tarife in der Binnenschiffahrt aushebelte — Anfang des Jahres wurde ein „Tarifaufhebungsgesetz“ erlassen — kassierten die deutschen Schiffer nur noch 60 Prozent der vorher üblichen Frachtraten. „Ich muß mit meinem Oberon 1.200 Mark am Tag verdienen, um rentabel zu sein“, rechnet Hoffmann vor, „ich seh' nicht ein, daß ich sterben soll, also kämpf' ich und kämpfe. Wir müssen uns nach allem strecken, wo was zu holen ist.“
Und zu holen war etwas von den Polen. Die deutschen Binnenschiffer machten Druck und wollten ihren Anteil am polnisch-deutschen Verkehr. Den sollen sie seit September bekommen: 250 deutsche Schiffe pro Monat nach Polen, 250 polnische Schiffe nach Deutschland. Nur — die Polen spielen nicht mit. Als der erste polnische Kapitän am Grenzübergang Mescherin von den deutschen Behörden eine Zählkarte annehmen sollte, weigerte er sich. Der nächste Schiffsführer ebenfalls. Die Boote durften die Grenze zur Bundesrepublik nicht passieren. Sie fuhren zurück nach Szczecin. Die Blockade begann.
Die Oder an der Stadtbrücke dümpelt graubraun an die Ufer, das Wasser verheißt wenig Appetitliches, hier ist man mitten in der Stadt, nahe bei Dom und Hauptbahnhof. Doch da ist ein älterer Mann, da noch einer, manchmal ganze Gruppen, die ihre Angeln in die Brühe tunken. Gleich neben den Bootsleibern, auf denen sich nur selten was rührt. Normalerweise fahren die Frachter mit Kapitän und zwei Mann Besatzung. Während der Blockade schiebt meist nur einer Wache, und der hat sich in die Kajüte verkrochen. Die Gardinen vor den kleinen Fenstern schließen dicht. Doch am Ostufer des Flusses, in einem alten Backsteingebäude, ist ständig Betrieb. Hier, im Gebäude der polnischen Binnenschiffahrtsgesellschaft Odratrans, tagt das Streikkomitee.
„Seit 1991 gab es eine freie Binnenschiffahrt“, ereifert sich Cezary Magiera, Schiffsführer und nun Sprecher der Blockierer, „jetzt nicht mehr.“ Die neue Regelung betreffe 1.000 polnische Binnenschiffer, die regelmäßig zwischen Berlin und Szczecin pendelten, „das Limit ist nur ein Tropfen“. Allein seine Reederei habe bisher 400 Fahrten im Monat gemacht, dann gebe es noch die staatlichen Unternehmen und die privaten Schipper. „Wir verstehen die deutschen Kollegen, aber es geht nicht gegen sie, sondern gegen das deutsche Verkehrsministerium.“ Daß an der Regelung auch der polnische Verkehrsminister beteiligt war, unterschlägt er dabei. „Die Kontingentierung ist auch gar nicht gerecht, denn nur die Anzahl der Schiffe wird gezählt, nicht die Tonnage.“ Dabei seien die deutschen Boote doch doppelt so groß wie die polnischen. Die Regierungen sind bisher ratlos, deutsch-polnische Verhandlungen wurden am Montag abgebrochen, übermorgen wird ein neuer Anlauf gemacht.
Auch mit einer Fifty-fifty-Regelung bei der Fracht würden sich die polnischen Schiffer nicht abfinden. „Wir wollen einfach nur arbeiten,“ fordert Magiera, „wir wollen einen freien Markt!“ Verkehrte Welt. Bisher waren es die Westeuropäer, die für Osteuropa das freie Spiel von Angebot und Nachfrage propagierten. Hier ist es umgekehrt. Die Deutschen, die unter marktwirtschaftlichen Bedingungen sehr schnell von der Oder verschwinden würden, haben mit Hilfe der Politik ein Kontingent durchgedrückt. Sie können mit den Dumping-Preisen der Polen nicht konkurrieren: Deutsche Seeleute kosten den Arbeitgeber 40 Mark pro Stunde, polnische nur fünf. „Wir in Szczecin sind der billigste Binnenhafen“, sagt Magiera stolz.“
Selbst wenn man den Polen dieselben Frachtpreise zahlte wie den deutschen Kollegen, wollten sie von der Kontingentregelung nichts wissen. Denn Entlassungen bei den staatlichen und privaten Firmen stünden auf jeden Fall an. Dann schon lieber für alle ein bißchen als für wenige alles.
„Bei allem Zorn, den wir auf die Polen haben, dürfen wir nicht vergessen, daß sie in Osteuropa doch alles in Bewegung gebracht haben, sinniert Schiffsführer Hoffmann in seiner Kajüte, die einem richtigen deutschen Wohnzimmer mit Couchgarnitur, Fernseher und eichenfurnierten Möbeln verblüffend gleicht. Ihre Streikbereitschaft und ihre Solidarität sind extrem hoch, nickt er anerkennend. Also könne man sich nur ruhig verhalten und abwarten. Denn die Probleme der Polen — die könne man schließlich nicht lösen. Bascha Mika
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen