: Die Tugend des Richters
■ Mielke-Richter empört sich über kritischen Presseartikel und handelt sich weiteren Befangenheitsantrag ein
Berlin (taz) – Auch am zweiten Prozeßtag gegen den ehemaligen Chef der Staatssicherheit, Erich Mielke, wegen sechs Tötungen an der innerdeutschen Grenze wurde noch nicht die Anklageschrift verlesen. Statt dessen beantragten die Anwälte erneut die Ablehnung des Vorsitzenden Richters Hansgeorg Bräutigam wegen Befangenheit. Der war, nachdem er einen kritischen Artikel im Tagesspiegel gelesen hatte, in die Justizpressestelle am Berliner Landgericht gelaufen. Dort hat er seine Tasche auf einen Tisch der dort arbeitenden Justizangestellten geschmissen und gepoltert: er sei stinksauer, er habe die Schnauze voll, jetzt sei es mit seiner Pressefreundlichkeit endgültig zu Ende. Dann verlangte er vom Justizpressesprecher, daß dieser beim Tagesspiegel anrufen möge, da er, Bräutigam, mit dem Journalisten sprechen wolle.
Die Anwälte können wegen eines solchen Verhaltens beantragen, daß der Richter wegen Befangenheit seinen Stuhl einem anderen überläßt. Und manchmal, höchst selten, sind sie damit auch erfolgreich. So mußte Bräutigam seinen Stuhl im Honecker-Prozeß aufgeben, nachdem er einen Autogrammwunsch einer Schöffin als „Postsache“ deklariert hatte.
In seinem Befangenheitsantrag läßt es sich Anwalt Jungfer nicht nehmen, aus einem Büchlein über tugendhafte Richter vorzutragen: „Die Gerechtigkeit hat zur Voraussetzung, daß der Richter in völliger innerer Gelassenheit, Ausgewogenheit und Selbstverantwortung die Anwendung des Rechts vollziehen kann. Energien, die andere der Selbstbeherrschung zuwenden, verbraucht er nicht; er kann sie anderen Tugenden widmen.“
In der Sache selbst sind die Anwälte der Ansicht, daß ein Richter, der die Freiheit der Presse nicht achte, die in der historischen Entwicklung zeitgleich mit dem reformierten Strafprozeß entstanden ist, schon allein deshalb die Besorgnis der Befangenheit nahelege. Naturgemäß sieht der Vorsitzende selbst die Sache anders. Er fühle sich nicht befangen, sagt er, nachdem er sein Verhalten in der Pressestelle bestätigt hat. Er habe den Journalisten, der am folgenden Tag bei ihm erschien, gesagt, die Sache sei für ihn erledigt.
Staatsanwalt Jahntz, der den Befangenheitsantrag zurückwies, räumte ein, daß Bräutigam „leider“ die gebotene Gelassenheit nicht gezeigt habe.
Damit war der gestrige Tag noch nicht beendet. Die Anwälte Mielkes erbaten sich nach den Worten des Vorsitzenden eine Erklärungsfrist bis zum kommenden Tag aus. Diese wurde nicht gewährt. Der Beisitzende Richter Hoch gewährte lediglich eine Frist von wenigen Stunden. Daraufhin stellten die Anwälte auch gegen den Beisitzenden Richter einen Befangenheitsantrag. Über beide Anträge wird bis zum nächsten Verhandlungstermin am 19. September entschieden werden. Julia Albrecht
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