Der Politiker - dein unbekanntes Wesen

■ Im Wahlkampf werden Kinder und GreisInnen gestreichelt wie nie / Über die stille Sehnsucht des Volkes nach einem Papa / Kohl besser als Scharping und Fischer, denn: „Politiker verkörpern immer Fehlendes“

Christa Schulte, Bremer Psychologin und feministische Therapeutin, beantwortet Fragen, die den Wahlkampf entscheiden.

taz: Warum sieht man Politiker in Zeiten des Wahlkampfes immer Kinderköpfe streicheln und GreisInnenhände schütteln?

Christa Schulte: Das hat verschiedene Ebenen: Die eine ist einfach Machtdemonstration. Mit inhaltlichen Argumenten und ideologischen Parolen Macht zu demonstrieren, reicht eben nicht. Sie wollen zusätzlich die Macht demonstrieren, die sonst eher in Frauenhänden ist, nämlich die Sorge, die Pflege von Beziehungen. Zum anderen dehnen sie sich damit über das übliche Wahlalter hinaus aus und demonstrieren damit noch mehr Macht als über die Ansprache der reinen Wählerschaft. Das dritte ist: Mann zeigt heutzutage Gefühl. Männer müssen deutlich machen, daß sie beispielsweise auch Frauen ansprechen können, und das können sie nicht nur über Äußerungen zu Politik, sondern dazu bedarf es der Äußerung von Gefühl, wobei das immer Pseudogefühl ist. Sie sind ja normalerweise nicht wirklich den Kindern zugetan, sondern es ist eine Geste für die Kameras.

Wieso trägt dieses Bild, es wissen doch alle, daß Männer sonst so nicht sind?

Es haben fast alle die Sehnsucht danach, daß Männer endlich so sein mögen. Da steckt eine weitere Ebene drin: Politiker haben ja auch immer sowas wie eine Vorbildfunktion, das heißt: sie greifen Sehnsüchte auf. Und eine davon ist, daß Männer mehr können, als einfach nur Reden schwingen. Daß sie für Kinder sorgen können, daß sie sich wirklich liebevoll Gedanken um Greise machen. Durch solche Gesten wie Händeschütteln von alten Menschen wird gezeigt: ich nehme dich ernst, ich setze dich auf die gleiche Ebene. Das ist ja an sich schon eine Lüge, denn sie urteilen ja ziemlich arrogant über alte Menschen.

Warum wird nicht eingefordert, daß Männer sich mehr um Kinder und Alte kümmern?

Zum Teil aus Resignation. Frauen haben ja ihr Leben lang gelernt, daß sie das von Männern nicht einfordern können, weil die wiederum nicht gelernt haben, es zu geben. Frauen haben sich arrangiert mit der Rolle der Gefühlsarbeiterin, der Mutter, der Liebenden.

Ist das Streicheln ein Symbol, womöglich ein Ritual, das genügt, weil wir in einer Zeit leben, in der Rituale immer seltener werden?

Ja, gerade zwischen den Generationen ist die Zahl der Rituale äußerst begrenzt. Da sind solche angedeuteten Rituale zwar ein schnöder Ersatz für die, die wirklich von Herzen kommen, aber in Ermangelung von mehr wird eben das akzeptiert. Politiker wollen natürlich erreichen, daß sie als Menschen persönlich sympathisch wirken, darum ja auch der Personenwahlkampf. Um das zu bewirken, brauchen sie mehr gefühlmäßige Breite, als übliche Männer aufzuweisen haben. Da wirken solche Gesten offensichtlich hirnabtötend.

Was heißt das?

Daß Frauen schnell mit einem inneren Denkverbot reagieren, nach dem Motto: eigentlich weiß ich ja, daß er nicht so ist, aber wenn er doch auf dem Bild so ist. Sie erteilen sich ein Verbot des weiteren kritischen Denkens, weil das Bild so sehr dem inneren Wunsch entspricht.

Warum präsentieren sich Politiker häufig auch mit Tieren?

Tiere sind ein Symbol für ein gutes Verhältnis zur Natur, ein Zeichen für die Alliebe. Politker kennzeichnen sich ja gern als alliebende Menschen, die die Welt erhalten und pflegen wollen.

Auf mich wirkt ein solches Verhalten absolut albern und unglaubwürdig.

Auf Sie und mich vielleicht. Ich gehe aber davon aus, daß Wahlkampfstrategen mit einer guten PR-Beratung wissen, was sie tun.

Wir haben eine andere Zeit als vor Jahrzehnten, da man dieselben Gesten beobachten konnte, und trotzdem funktioniert der Rückgriff auf so schäbige vermottete Schablonen.

Ja, aber ich bin davon überzeugt, daß die Rührung, die das aulöst, auch weiterhin vorhanden ist. Es muß einen Großteil der Wählerschaft geben, die mit Sympathie auf die bloße Fiktion von Menschlichkeit dieses Politikers reagiert. Wenn öffentliche Menschen sich menschlich zeigen, funktioniert das, weil wir da alle ein Defizit haben.

Was für ein Charisma verbreitet Ihrer Meinung nach Helmut Kohl?

Bei aller Überheblichkeit, bei aller Menschenfeindlichkeit, die ihn auszeichnet, ist es ein Charisma vom guten Vater der Nation. Es hat für mich sehr viel väterliches, weniger männliches. Und er hat manchmal etwas schweinisch-kumpliges, was sicher männliche Wähler wieder mehr anspricht. Er ist einer, der durchgreift, der sich nichts gefallen läßt, aber eher im Sinne des schützenden Vaters, der aggressiv nach außen ist, damit seine Nation in sogenanntem Frieden leben kann. Da wirkt er nach außen hin stärker als Scharping.

Was repräsentiert der?

Vernunft, klareres Denken, die Fähigkeit, was beim Namen zu nennen, aber nichts Väterliches. Wenn ich an die zwei Teile von Deutschland denke, die so schwer zusammenkommen, dann ist das Pseudointegrative eher gefragt, und das verkörpert Kohl. Der hat, so pervers es ist, viel mehr integrative Wirkung.

Braucht eine Partei jemanden, der so etwas ausstrahlt? Die Grünen haben so jemanden nicht, ist das ein Fehler?

Ja, weil die als Personen nicht genügend Autorität verkörpern. Die können noch so gute Argumente haben, sie bauen einfach zu wenig Persönlichkeiten auf.

Was den BürgerInnen, die darauf angewiesen sind, ein Armutszeugnis ausstellt...

Ja, aber viele sind hoffnungslos überfordert mit einer differenzierten Analyse der Parteien, von daher fahren sie auf schlichte Parolen ab. Sie trauen sich selbst nicht mehr zu, klare Entscheidungen zu treffen und gehen auch mit einer Art Halbbewußtsein zur Wahl. Sie gehen einfach nach schlichten Kriterein wie beispielsweise Sympathie.

Kinder und GreisInnen werden als Bühne benutzt, aber nicht die Jugend, obwohl die doch Wählerpotential darstellen?

Zum einen brennt der Generationenkonflikt zu sehr. Zum anderen ist die Jugend sehr verschieden, es gibt Strömungen von rechts bis links, von Null Bock, also solche, die gar nichts mit Politik zu tun haben wollen, bis hin zu solchen, die sich engagieren, aber nicht so sehr parteienorientiert. Viele Jugendliche durchschauen die Lügen besser als die Erwachsenen, sodaß die bürgerlichen Parteien als solche bei den Jugendlichen gar keine Schnitte machen. Um die auf ihre Seite zu kriegen, müßten sie erstmal den Autoritätskonflikt anpacken. Also beispielsweise zugestehen, daß die ökologisch mehr wissen als die meisten Erwachsenen, und daß sie eigentlich mehr Recht auf Mitsprache hätten. Das würde eine ernsthafte Auseinandersetzung mit Inhalten bedeuten, und das passiert im Wahlkampf nicht.

Die Jugend wird nicht außer Acht gelassen, sondern sie wird schlechtgemacht, man kann durchaus von Haß auf Jugendliche sprechen. Ist da Projektion im Spiel?

Viele Politiker sind in der Vätergeneration, und das heißt, sie müßten sich erstmal mit ihrer Schuld auseinandersetzen.

Was ist das?

Zum Beispiel die mangelnde Vorbildfunktion, den Jugendlichen keine ethische Orientierung gegeben zu haben. Keine Ressourcen bereitgestellt zu haben für den Arbeitsmarkt. Auch die Schuld, als leibliche Väter nicht genügend präsent gewesen zu sein... In der Theoriebildung ist da ein deutlicher Schwenk zu beobachten, während früher den Müttern die Schuld gegeben wurde, heißt es heute: der Vater war nicht da. Die Art, wie viele Jugendliche sind, auch mit der Brutalität, mit der sie versuchen, durchs Leben zu kommen, das ist eine wahnsinnige Konfrontation für die Generation davor. Die meisten Politiker sind nicht reif, diese Konfrontation aufzunehmen.

Haben die Politiker Angst vor den Jugendlichen? Suchen sie möglicherweise dann auch Schutz bei den Kindern und GreisInnen?

Ja. Greise sind ungefährlicher, bedrohen den Wahlkampf nicht. Kinder können noch lange nicht mitstimmen. Und es werden ja auch nicht wirklich Kinder und Greise angesprochen, sondern die erwachsene Wählerschaft, die sich freut, wenn Kinder und Greise angesprochen werden.

Liegt darin ein Stück Wiedergutmachung einer Kinder und Alte ignorierenden Gesellschaft, für die die Politiker dann wahrhaftig Repräsentanten sind?

Ja, und nicht nur Wiedergutmachung, sondern auch die Verleugnung der bestehenden Verhältnisse. Das wirkt so, als wäre die Kinder- und Altenfeindlichkeit nicht vorhanden. Und damit leben sie die Verleugnungstendenz der ganzen Wählerschaft.

Können wir auf eine Vaterfigur verzichten? Was sagt die Feministin?

Nein. Ich gehe dabei jedoch nicht davon aus, daß Väterlichkeit nur durch Männer oder Politiker wie Herrn Kohl vorgelebt werden kann. Es um Prinzipien von Persönlichkeit, und damit meine ich zum Beispiel die gütige Sorge fürs Wohl des Ganzen, das Rausgucken über den eigenen Tellerrand. Oder eine gute väterliche Strenge, die nein sagt zu Drogen, aber andere Perspektiven weist, die Verdikte erteilt, aber auch Lebensperspektiven, Sinnhaftigkeit gibt, die was Glückliches hat in unserer hektischen Gesellschaft. Eine Väterlichkeit, die eine Verbindung herstellt zwischen Individuum und Gesellschaft, die gibt es selten. Darüber verfügen auch Feministinnen zu wenig. Solange das so wenig verkörpert wird, gibt es diese Sehnsucht nach Verkörperung von Väterlichkeit in solchen Symbolfiguren wie Politikern. Von daher ist schade, daß die Grünen solche Figuren nicht bereitstellen.

Joschka Fischer gibt dafür nicht genügend her. Hätte Antje Vollmer eine solche Figur repräsentieren können?

Ja, vielleicht.

Wir machen nicht unser Kreuzchen am 16. Oktober, wir haben also die Wahlen durch eigene Sehnsüchte lange vorher bestimmt?

Ja, und durch unsere Ängste. Denn ein weiteres Prinzip von Väterlichkeit liegt darin, Sicherheit zu geben. In der klassischen Kleinfamilie kann die Mutter sich nur deswegen um die Kinder kümmern, weil der Vater sich materiell absichernd vor sie stellt. Daß es andere Modelle geben kann, etwa Frauenbeziehungen, ist klar. Nur solange Kleinfamilien das nicht mehr erfüllen, andere Modelle sich nicht etablieren konnten, fehlt anscheinend was: Die Vermittlung des Gefühls von Sicherheit, auch auf nationaler Ebene. Es gibt wenig stolz der Deutschen auf ihre Nation, auf ihre Familie, auf ihre Zusammenhalte. Stolz ist vielmehr was sehr Verpöntes, etwas, was qua nationaler Schuld eigentlich nicht sein darf. Und wenn ein rechter Politiker sich hinstellt und frechweg Stolz verkörpert, dann kann ich das intellektuell noch so sehr ablehnen. Aber es entspricht doch einer nicht gelebten Seite, die auf den Politiker projiziert wird. Wenn Politiker dagegen nur das Kritische verkörpern, reicht das nicht aus, um gewählt zu werden. Das spricht natürlich nicht gerade für unsere eigenen Sicherheit, für den Stolz, aber Politiker verkörpern immer Fehlendes.

Andererseits verkörpern sie Untugenden, die am Rande der Legalität stehen und sie ein Doppelleben führen läßt. Man denke an Lafontaine oder andere Politiker, die nach einem Vergehen vielleicht für zwei Jahre auf einen Posten im Osten verbannt, aber danach wieder recycled werden. Sie bleiben im Spiel.

Politiker haben eine derart lebensfeindliche Tagesstruktur, daß sie, wollen sie noch was vom Leben haben, zum Doppelleben gezwungen werden. Ich habe mit einem Kollegen abgemacht, Erholwochenenden für Politker zu arrangieren, weil wir denken, daß viel von der Dummheit in der Politik nicht nur Ideologiestreit ist, sondern schlichte Überforderung. Sie haben zu viele Informationen zu verdauen, ihr Tagesablauf ist von Kaffee und Zigaretten geprägt _ kein Wunder, daß da menschenfeindliche Politik bei rauskommt, denn sie respektieren sich selbst als Menschen überhaupt nicht. Und wir wissen doch, Unsinnlichkeit macht dumm.

Was wollen sie den Politikern am Wochende anbieten?

Bauchtanz für Polikerinnen.

Nur für die Frauen?

Das ist nun meine Resignation. Ich dachte, ich fang mal mit dem Leichteren an. Es ist schon schwer genug, die davon zu überzeugen, daß Erholung und Ruhe etwas direkt politikförderndes ist. Sie sollen schlichte einfache Entspannungsübungen trainieren, die sie zwischendurch machen können. Es gibt auch – wir haben eine Tantraausbildung gemacht –auf der Ebene der Erotik Übungen für zwischendurch. Diese würden wir gern anbieten, um einen kleinen Schritt zur Integration dieser Doppelleben zu tun... Ehrlich gesagt sind mir Politiker mit einem Doppelleben lieber als die ohne. Weil sie unter einer wahnsinnigen Verarmung von Emotionalität leiden, an Freude. Das ganze Gerede um das Doppelleben, ob die nun schwule Erfahrungen haben oder in den Puff gehen, ist ein moralinsaures Gequatsche.

Was ist mit denen, die klauen, die Steuern hinterziehen, die trotz Nazivergangenheit agieren?

Das sind natürlich die Doppelleben, die auch meiner Moral widersprechen. Doch auch das wird durch die lebensfeindlichen Strukturen mitproduziert. Wenn Politiker ihre Macht mißbrauchen, heißt das, daß sie mehr davon hatten, als sie selbst handhaben konnten. Es gibt zu wenig Unterstützung für Politiker, mit Macht gut umzugehen. Ich will die nicht entschuldigen, aber die Art, wie in der westlichen Welt Politik gemacht wird, isoliert Menschen von der normal menschlichen Lebensform, vom Alltag. Die Folge ist, die rücken immer weiter ab von dem, was ihre Wählerschaft ausmacht. Daher brauchen sie solche Gesten wie Kinderköpfe streicheln und Hände schütteln. Es symbolisiert, daß sie mitten im Leben stehen, was sie ja überhaupt nicht tun. Die haben ja überhaupt eine Zeit, das Leben auszukosten wie andere. Die Folge ist, daß sie Macht mißbrauchen, so wie kleine Jungens klauen, wenn sie nicht genug Liebe kriegen.

Das sind strukturelle Probleme. Sollten Frauen sich beteiligen an diesem Spiel, indem sie wählen gehen oder sich selbst parteipolitisch engagieren?

Ja, wir kriegen das Sytem nicht von außen verändert. Eine Veränderung wird nur dadurch erreicht, daß immer mehr Frauen an immer mehr Machtstellen sitzen.

Mittäterschaft bei einem, was die Frage der Menschlichkeit angeht, hohlen Spiel?

Ja, ich glaube, daß wir nicht drumrum kommen. Es ist eine Illusion, uns davor sauber halten zu können. Die Frauen, die den Mut haben, da rein zu gehen, sind zu unterstützen. Sie werden häufig alleingelassen, Frauen gehen zu ihnen in Konkurrenz, statt eine Fürsorge zu entwickeln.

...zu der wir qua Rolle schon immer verpflichtet wurden.

Ja, aber es hat keinen Zweck, aus der Fürsorge auszusteigen und sie an Männer zu delegieren, die sie dann nur zum Schein demonstrieren.

Fragen: Dora Hartmann