: Allesfresser Demokratie
Der französische Autor Jean-Christophe Rufin entwickelt eine originelle Feindbildtheorie, mit der er die Bedrohungsszenarien westlicher Demokratien im 20. Jahrhundert neu interpretiert ■ Von Udo Knapp
Trotz größter Herausforderungen haben die Demokratien des Westens, ihr Modell aus Marktwirtschaft und repräsentativer Demokratie, dieses 20. Jahrhundert erfolgreich überstanden. Die Frage, wie es zu diesem historischen Erfolg kam und wie sich die Dinge weiterentwickeln könnten, erörtert Jean-Christophe Rufin, Arzt und Politologe, in „Die Diktatur des Liberalismus“ auf – wie so oft bei vergleichbaren französischen Autoren – paradoxe und unterhaltsame Weise. Jede Demokratie brauche, so Rufin, veritable Feinde. Sind die nicht willig und böse genug, müssen sie mittels Geheimdiplomatie oder konkreter Kooperation gefestigt, zugleich aber auch grundsätzlich verteufelt werden. Nicht der Sieg über den Feind selbst ist dabei zentral, sondern die Angst, die der Feind erzeugt. Dieser Zustand der erfundenen Selbstbedrohung wird nicht als Katharsis gebraucht, sondern als dauerhaftes Elixier der eigenen Existenz. Rufin dekliniert unter dieser Prämisse die Geschichte der Bedrohungen der Demokratie in diesem Jahrhundert völlig neu durch. Er beginnt mit dem Kommunismus. Um zu überleben, hat Lenin mit den Kapitalisten einen Pakt geschlossen, „der ihnen die Weltrevolution auslieferte (...).
Der Pakt mit dem Lieblings-Feind
Auf diese fast zufällige Weise sollte sich der Verrat im Herzen der russischen Revolution einnisten, um fortan zugleich ihre Seele, ihr Antrieb und ihr Geheimnis zu sein.“ Der Rapallo-Vertrag, die Unterstützung der Kuomintang gegen Mao in China, die offene Zusammenarbeit mit den deutschen Nazis, das gewaltsame Niederschlagen der Aufstände in Berlin, Budapest und Prag ohne westlichen Einspruch, die Domestizierung Castros um den Preis des Verrats Che Guevaras sind nur einige Belege für die These, der Kommunismus in Rußland habe nur durch den dauerhaften Verrat an seinen Anhängern und mit Hilfe des Westens überlebt.
Als der Kommunismus als apokalyptische Selbsterziehungsinstanz auch für den Westen nicht länger brauchbar war, mußten neue Apokalysen her. Sie boten sich im richtigen Augenblick mit der Studentenrevolte, der ökologischen Herausforderung, dem Nord-Süd-Gegensatz und der sozialen Desintegration ganzer Lebensbereiche innerhalb der westlichen Gesellschaft wie von selbst an. Die grüne Apokalypse etwa, die unübersehbar gewordene Selbstzerstörung der westlichen Industriegesellschaften durch gedankenlose Naturzerstörung, war zu Beginn ihres Auftretens an die radikale Forderung nach einem Verzicht auf jegliches Wachstum geknüpft. Mit der Erfindung des „sustainable development“, der nachhaltigen Entwicklung, wandelte sich innerhalb von nur 20 Jahren scharfen Kampfes die politische Gestalt der Ökologiebewegung in einen voll ins politische Geschäft integrierten Reformbereich.
Der Nord-Süd-Gegensatz hat sich Rufin zufolge nach dem Zusammenbruch der Ost-West-Aufteilung der Welt verschärft reproduziert. „Die Zeit, als man meinte, die Realitäten von Nord und Süd seien zwar verschieden, müßten sich aber eines Tages angleichen, scheint endgültig vorüber zu sein. (...) die Unterschiede beider Welten anzuerkennen (...) heißt vor allem, in der Andersartigkeit des Südens eine schwerwiegende Bedrohung für den Norden zu sehen.“ Angst vor dem Chaos des Südens und Mitleid mit seinen Tragödien bilden das Szenarium für eine Horrorvision, die die demokratischen Gesellschaften in ihrem Innern befestigen. Dort haben sie sich zudem durch Ausgrenzung von Minderheiten Bereiche geschaffen, die, obwohl sie als Feindmatrix dienen, den in ihnen lebenden Benachteiligten Wege zur Integration eröffnen. Kriminalität ebenso wie die Ghettos sind dieser Vorstellung nach nichts anderes als Funktionen zur Stabilisierung demokratischer Kultur.
Der Feind als Perpetuum mobile
Die Fähigkeit der westlichen Demokratien, sich den „maßgeschneiderten idealen Feind“, die ständige Furcht vor neuen Bedrohungen selbst zu organisieren, verallgemeinert Rufin nach all den Beispielen zur These, daß die Demokratie sich von ihren gesellschaftlichen Grundlagen verselbständigt habe, daß sie „in ihrem Innern alle Bestrebungen zulassen könne, weil sie keine Bedrohung mehr darstellen“. Ihm zufolge gibt es keine Gewalt, „die die demokratische Kultur nicht zu ihrem Vorteil einzusetzen weiß, keine Rebellion, deren Energie sie sich nicht letztlich zu eigen macht, keine Apokalypse, deren Beschwörung ihr nicht zu höherem Ruhm verhilft“.
So erweist sie sich als eine Gesellschaft, der man nicht zu entfliehen und der man keine Auflehnung entgegenzusetzen vermag. „Eine Diktatur ist sie insofern, als sie sich allen aufzwingt, auch denen, die sie ablehnen.“ Das Haus der Freiheit als ewige Trutzburg des unwandelbar Demokratischen – das erscheint so irrational wie der christliche Glaube an die ewige Erlösung. Die Wirklichkeit offener demokratischer Gesellschaften sieht anders aus. Dennoch ist Rufins kybernetisches Regeltheater amüsant zu lesen.
Jean-Christophe Rufin: „Die Diktatur des Liberalismus“. Rowohlt Verlag Reinbek,
272 Seiten, 34 DM
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