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Wenn die Blase weint

Unsere kleinen Kommunikationsorgane. Ein Beitrag  ■ von Dorothee Wenner

Wie selbstverständlich nehmen wir tagtäglich den modernen „Free Flush of Information“ hin. Erst wenn der unaufhörliche Strom der Nachrichten einmal abrupt versiegt, kommen wir wortwörtlich zur Besinnung auf das Wesentliche, erweitern unseren Medienbegriff und lassen dem Erkenntnisfluß freien Raum. Die Disfunktion der Kommunikationsblase – ein Glücksfall?

Im Sozialen erfüllt die Blasenentzündung vor allem für Frauen eine ähnliche Funktion wie Thrombosen oder Zysten: Infektion und damit Ursachenforschung liegen in der Grauzone zwischen Innerem und Äußerem, und je nach Typ gehen Frauen damit um. Während sich die eine damit begnügt, den letzten kühlen Abend im Gartenlokal verantwortlich zu machen, ist sie der anderen Anlaß, grundlegend über Lebens- und Liebesbedingungen nachzudenken – schließlich kann man Blasenentzündungen ja auch gut in Verbindung mit Sexsitten bringen.

Das mag der Grund sein, warum zum Beispiel eine Mutter in einem Brief ihrer 9jährigen Tochter an einen gleichaltrigen Freund überall das Wort „Blasenentzündung“ mit Fettstift unleserlich machte. Erst Jahre später erfuhr die Tochter durch Zufall von dieser Zensur, was den endgültigen Bruch mit dem Elternhaus zur Folge hatte. „Eine Blasenentzündung“, so eine anthroposophisch geschulte Ärztin, „ist beim ersten Mal harmlos. Aber beim dritten Mal muß man sich fragen, was es bedeutet, wenn die Blase weint.“

Mit dieser großen Spannbreite in der Diagnostik ist die kleine entzündete Blase ein höchst kommunikabler Topos – für Kantinenplausch und TV-Sendungen wie „Mona Lisa“ ebenso wie in Frauenmemoiren. In Leni Riefenstahls Biographie zum Beispiel ist die chronische Blasenentzündung der rote Faden: Riefenstahl beschreibt, wie sie den Kampf gegen die Organschwäche allmählich aufgibt und statt dessen lernt, mit der Krankheit zu leben.

Damit gehört die Regisseurin zu jenem Typ alter Hasen, die Neubetroffenen gefragt oder ungefragt Ratschläge geben. Das ist für Ingrid, die gerade zum wiederholten Male erkrankt ist, eine der schlimmsten Nebenwirkungen der Blasenentzündung. Sie gehört zu den bewußten Verdrängerinnen, die die Krankheit tarnen und nicht nur den Wollschal vom Bauch wickeln, wenn Besuch kommt, sondern auch das Granulat aus der „Harntee 400“-Dose in neutrale Marmeladengläser umfüllen. Mit ihrem Bemühen, die Krankheit zu ignorieren, ist Ingrid aber nur mäßig erfolgreich, das Thema drängt sich ihr irgendwie penetrant überall wieder auf.

Wohlwollend kopierte ihr eine Arbeitskollegin das entsprechende Kapitel aus einem Gesundheits- ABC. So erfuhr sie, daß Inkontinenz im Alter zu den typischen Spätschäden des Leidens gehört, und dieses Wissen war die Ursache für einen schlimmen Traum. Sie sah sich selbst als lebenslustige, alte Frau in ihrer Wohnung, die sich auf den Besuch des Zivildienstleistenden freut. „Ah, heute ist Mittwoch, heute kommt Jörg!“ habe sie zu sich gesprochen, während sie in betörendem, von ihr selbst ausströmenden Gestank voller Vorfreude ihre Lippen schminkte. Jörg dagegen sah sie derweil die Treppe hochgehen und murmeln: „Heute muß ich schon wieder zu dieser stinkenden Alten ...“ Kurz darauf lag zudem noch ein Brief ihrer Mutter in der Post: „Liebe Ingrid, durch Zufall erfuhr Papi von Deiner Blasenentzündung, und Du kannst Dir denken, daß Deine Anfälligkeit und viele Kränkeleien uns Sorgen bereiten. Ich habe einfach keine Lust mehr, Dich ständig zu mahnen und Vorschläge zu machen, was Du tun und vor allem lassen sollst. Eins aber ist klar: Gesundheit ist das Wichtigste und muß auch gepflegt werden. Wenn ich mir vorstelle, wie Du Dich vor, während und nach Deiner Blinddarm-Operation benommen hast, kann man nur den Kopf schütteln, wie ein 34jähriger Mensch so unvernünftig sein konnte. Du führst ein ungesundes Leben, und irgendwann rebelliert der Körper, natürlich an der schwächsten Stelle. Schon als kleines Mädchen hattest Du mal so eine Blasenentzündung, und ich erinnere mich genau daran, wie schmerzhaft das war, und daß der Arzt meinte, Du müssest sehr aufpassen. Trotzdem, die Röcke konnten nicht kürzer und dünner sein. Bitte, liebe Ingrid, kratz' Deine verbleibenden Ferientage zusammen und fahr' mit einer Freundin in Sonne, Wärme, Ruhe. Genier' Dich nicht, uns um Geld zu bitten. Du weißt, daß wir demnächst in Kitzbühl sind, dort eine süße Wohnung haben, wo immer ein Platz für Dich ist. Es ist sehr erholsam – ach was, ich brauche es gar nicht anzupreisen, denn Du wirst es von vornherein ablehnen, mit den schrecklichen Eltern zusammenzusein. Hast Du eigentlich mal darüber nachgedacht, wie weh uns oft zumute ist? Ich verstehe es einfach nicht! Also bitte: Tu' was für Deine Gesundheit und fahr' zur Erholung, wo Du die Seele baumeln lassen kannst: Mehr kann ich nicht sagen, als um Deiner Gesundheit wegen darum zu bitten.“

Übrigens: Wird eine Blasenentzündung verschleppt, entwickelt sich daraus schnell eine Nierenentzündung. Und mit dieser Fortsetzung steigert sich das kommunikative Potential so sehr, daß die Designer der 50er Jahre dem Organ mit einem Beistelltischchen gleichsam ein Denkmal setzten, das zum Symbol einer kranken Generation wurde – ein Runder Tisch für Frauen, an dem sie sich über Blasenleiden austauschen.

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