■ Nationale Einheit und demokratische Freiheit ergänzen einander Sie sind zwei Seiten ein und desselben Verfassungspatriotismus
: Demokratische Vaterlandsliebe

Distanzloser vaterländischer Stolz wirkt überall auf der Welt lächerlich und mündet leicht in bornierten Nationalismus. Wer stolz darauf ist, Franzose zu sein — und nur das –, macht sich stumpf und blind, weil er von Folter und Mord der französischen Kolonialarmee in Algerien und Vietnam nichts wissen will oder seinen nordafrikanischen Nachbarn als „Kameltreiber“ schmäht. Es gibt indes eine Steigerungsform der dumpfen Vaterländerei. Wer stolz darauf ist, Deutscher zu sein – und nur das –, ist nicht bloß national borniert und ein potentieller Rassist, sondern zieht den begründeten Verdacht auf sich, sein Stolz schließe Hitler und Eichmann mit ein.

Unausgegorener Nationalstolz ist in Deutschland auf beispiellose Weise kompromittiert. Von daher charakterisiert die Debatten über „deutsche Identität“, „Normalisierung“ und dergleichen ein ganz unglückliches Bewußtsein. Da mag sich die Sucht nach „Identität“ noch so trotzig geben, sie verrät doch eine tiefgehende Verstörung, ein heilloses Selbstzerwürfnis.

Worauf aber wäre nach Hitler ein Nationalbewußtsein zu gründen, das weder die Deutschen noch ihre europäischen Nachbarn fürchten müßten? Der Sache mit der Nation fehlt hierzulande seit jeher ein vitaler demokratischer Impuls. Recht verstandener Verfassungspatriotismus könnte dazu beitragen, diesen Mangel zu beheben. Der Begriff repräsentiert den so spannenden wie hochaktuellen und überfälligen Versuch, ein aufgeklärtes Verhältnis zwischen Nation und Republik herzustellen.

Das Grundgesetz wurde dreißig Jahre alt, als im Mai 1979 jener Leitartikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zu lesen war, der den programmatischen Titel „Verfassungspatriotismus“ trug. Der Begriff, wie ihn der Politologe Dolf Sternberger prägte, meint eine „vaterländische Gesinnung“, eine „Vaterlandsliebe“, deren Stolz sich auf die politische Freiheit bezieht, wie sie in der demokratischen Verfassung eines Landes niedergelegt ist. Das meint keine „ausgeleierten Rechtsfiktionen“, sondern vor allem die gelebte, die wirkliche Verfassung und ihre Institutionen. Nach drei Jahrzehnten leidlich geglückter Verfassungspraxis erschien das einst als Provisorium gedachte Grundgesetz tragfähig genug, um darauf einen „neuen“, einen „zweiten“ Patriotismus zu gründen.

Sternberger verwirft ausdrücklich den nationalen Patriotismus in Gestalt jenes aggressiven Chauvinismus, wie er seit Gründung der modernen Nationalstaaten die internationale Politik beherrschte. Die wechselseitigen Feindbilder und Kriege dieser Epoche gehören zum Inbegriff des abschreckend Vaterländischen. Unter dieser vergleichsweise jungen Erscheinungsform läßt sich aber die ältere Bedeutungsschicht eines „ursprünglichen“ Patriotismus freilegen. Dessen Ethos findet nicht in irgend einer beliebigen Art der staatlichen Ordnung seinen Grund, sondern in der Republik und dem Stand der bürgerlichen Freiheit. Dieses „vornationalistische Verständnis“ sieht Sternberger tief verwurzelt „in der lateinisch-humanistischen Tradition“, zumal in der antiken Republik, der Polis.

Sternberger, der im Juli 1989 im Alter von beinahe 82 Jahren starb, hat die Tage der deutschen Einheit nicht mehr erlebt. Taugt seine Vision auch für das vereinte Deutschland? – „Das Nationalgefühl bleibt verwundet, wir leben nicht im ganzen Deutschland“, schrieb er 1979 – um fortzufahren: „Aber wir leben in einer ganzen Verfassung, in einem ganzen Verfassungsstaat, und das ist selbst eine Art von Vaterland.“ Vielleicht haben Randbemerkungen wie diese den Argwohn gespeist, Verfassungspatriotismus sei bloß eine Verlegenheitslösung, ein fader Ersatz für den westdeutschen Teilstaat – und folglich nur noch Relikt, wie vieles andere der alten Bundesrepublik. Es ist jedoch ein Irrtum zu glauben, im vereinten Deutschland könne der Verfassungspatriotismus für obsolet erklärt werden, um endlich ans Ufer eines „normalen“, eines nationalen Patriotismus zu gelangen. Sternberger hat 1987 ausdrücklich betont, daß Verfassungspatriotismus keineswegs als ein „Notbehelf“ gedacht war. Das gilt auch unter den Vorzeichen der deutschen Einheit; die neu aufgeworfene nationale Frage bedarf einer rationalen Antwort.

Nicht Volk und Land, Herkunft oder deutsche Nation sind die Hauptsache des Sternbergschen Patriotismus, sondern die Idee und Wirklichkeit des demokratischen Verfassungsstaats. Realistischerweise wird die Verfassung nicht nur als Garant von Grundrechten in den Blick genommen, sondern zugleich als „gepanzerte Freiheit“. Auch die rechtsstaatlich gezügelte Staatsgewalt verfügt über das Monopol legitimen physischen Zwangs, etwa in Gestalt der Polizei. Man kann diesen liberal-konservativen, ein wenig zur Staatsseite neigenden Patriotismus als aufgeklärt bezeichnen: Eben weil er die Fixierung auf Nation und Nationalstaat überwunden und die bürgerliche Freiheit zur strikten Bedingung seiner Vaterlandsliebe gemacht hat. In dem mehrfach zitierten Wort von La Bruyère, einem französischen Schriftsteller des 17. Jahrhunderts, fand Sternberger seine Vorstellung treffend aufgehoben: „Es gibt kein Vaterland unter der Despotie.“

Dieser anspruchsvolle, gleichsam sublimierte Patriotismus verdankt einen Gutteil seiner Resonanz dem Umstand, daß Jürgen Habermas sich seiner im westdeutschen Historikerstreit bediente. Diese 1986/87 mit Vehemenz und Schärfe geführte Kontroverse entzündete sich vorderhand an der Bestimmung des geschichtlichen Standorts des Nationalsozialismus. Im Grunde aber stand das Selbstverständnis der alten Bundesrepublik zur Debatte. Gegen die „apologetischen Tendenzen“ einer Geschichtspolitik, so etwas wie ungebrochene nationale Identität zu stiften und die Vergangenheit zu „entsorgen“, berief sich Habermas auf ein nichtkonventionelles Nationalbewußtsein: „Der einzige Patriotismus, der uns dem Westen nicht entfremdet, ist ein Verfassungspatriotismus.“

Während Sternberger von der traditionsbildenden Kraft des Grundgesetzes ausgeht und im Anschluß daran – eher begriffsgeschichtlich – das Ideal eines zivilen Patriotismus entwirft, fundiert Habermas die gemeinsame Sache auf theoretisch ausgreifendere Weise: Er entwickelt das sozialwissenschaftliche Konzept einer „posttraditionalen Identität“. Die prekäre Balance zwischen den beiden Elementen des demokratischen Nationalstaats, dem Universalismus der Demokratie und dem Partikularismus der sich nach außen abgrenzenden Nation, diese Balance ist längst in Bewegung geraten. Im Zeitalter weltweiter Kooperationsnetze und der großen Völkerwanderung nimmt die Bedeutung nationalstaatlich geschlossener Kollektive ab. Durch die blutige Renaissance des Nationalismus wird diese Tendenz zwar konterkariert, aber nicht umgekehrt.

Weil jede Überlieferung ambivalent ist, verstrickt sich die fraglose, ungeprüfte Aneignung von Tradition zusehends in Widersprüche. In einer Welt wachsender Gewißheitsverluste ist der Wunsch nach Klarheit und Eindeutigkeit, der meist als Beschwörung von „Identität“ auftritt, verständlich, doch nicht zu erfüllen. Für Deutschland hat sich diese Ambivalenz radikalisiert – im Gefolge der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik: Dieser Zivilisationsbruch versperrt den direkten Zugriff auf die Selbstverständlichkeiten einer nationalen „Identität“. Zwischen den Deutschen und jedem unschuldigen Nationalstolz steht Auschwitz. Eine düstere Erkenntnis, gewiß, doch erwächst aus ihr keineswegs die ewigwährende Pflicht zu moralisierender Selbstverwerfung – wohl aber diese eine: Das Verständnis der deutschen Nation muß die Filter reflektierender Vernunft passieren.

Jene voraussetzungsvolle, ja wählerische Form der Vaterlandsliebe kann man mit Habermas so charakterisieren: Die Identifikation mit der eigenen Überlieferung wird überlagert von einem „abstrakter gewordenen Patriotismus, der sich nicht mehr auf das konkrete Ganze einer Nation, sondern auf abstrakte Verfahren und Prinzipien bezieht“. Verfassungspatriotismus ist deshalb aber keine Ausflucht in ein wolkiges Vaterland in den Lüften, sondern demokratische Vaterlandsliebe. Deren Sorge gilt der gleichberechtigten Koexistenz verschiedener Lebensformen. Nicht irgendein „deutsches Wesen“ stiftet politische Einheit, sondern die Verfassung der Vielfalt. Diese Lesart des von Sternberger geprägten Begriffs darf durchaus als authentisch gelten. Beide machen am Ende, wenn auch persönlich akzentuiert, die Verfassung der Freiheit, die demokratische Republik, zum Angelpunkt ihres Patriotismus.

Im Prozeß der deutschen Einigung sind sie wieder häufiger zu hören, die Appelle an „Nationalgefühl“ und „Schicksalsgemeinschaft“. Solche Bemühungen, mit denen sich Leute wie Wolfgang Schäuble abplagen, sind jedoch nichts anderes als Wiederbelebungsversuche an einem Dinosaurier. Nation ist, was eine sein will – und das heißt unter demokratischen Vorzeichen: was eine freie Republik sein will.

Der moderne Nationalstaat wird nicht durch den Stallgeruch ethnischer Herkunft oder landsmannschaftlicher Folklore zusammengehalten; auch nicht durch ein Heimatgefühl, das für den einzelnen kostbar ist. Der moderne Nationalstaat wird zusammengehalten durch das Selbstbewußtsein vieler Bürgerinnen und Bürger, Subjekt und Ursprung, lebendige Quelle der Demokratie zu sein. Daß im übrigen der universalistische Patriotismus, bis auf weiteres jedenfalls, im Nationalstaat seinen territorialen Bezugsrahmen findet, ist im Grunde selbstverständlich und tut nichts zur Sache: Wenn nur dieser Nationalstaat nicht zur Zitadelle deutschtümelnder Ressentiments gegen alles Fremde wird.

Ein politisch aufgeklärter Patriotismus wird sich deshalb auch in der Frage der Staatsbürgerschaft bewähren müssen, das heißt in der grundlegenden Frage: Wer soll mitbestimmen? Versteht man die Zugehörigkeit zur Nation nicht vorrangig als Sache der Herkunft, sondern als eine der freien und gleichen Teilnahme an den öffentlichen Angelegenheiten, dann darf auch der Volkssouverän nicht länger auf die Fiktion ethnischer Homogenität reduziert werden.

Im vereinten Deutschland leben bereits Millionen Fremde – Menschen italienischer, türkischer, polnischer oder auch vietnamesischer Herkunft. Können sie jemals Verfassungspatrioten werden? Sie können es, unter einer Bedingung: Ihnen und ihren Kindern darf nicht länger die volle politische Gleichberechtigung verweigert werden. Erst wenn sie das Leben in dieser Gesellschaft folgenreich mitgestalten können, zum Beispiel als Wahlberechtigte oder Abgeordnete, werden sie in Deutschland vielleicht eine zweite Heimat, ein ideelles Vaterland finden.

Kurzum: Verfassungspatriotismus wird sich auch als realistische Option für die multikulturelle Gesellschaft bewähren müssen. Das läuft keineswegs darauf hinaus, die besonderen Traditionen Deutschlands, seine Sprache, Kultur und Geschichte zu negieren, oder diese Traditionen gar aus der entrückten Sphäre eines Weltbürgertums naserümpfend zu denunzieren. Ziel wäre vielmehr eine Art Universalismus in den Farben der deutschen Republik.

Verfassungspatriotismus verschafft keine pflegeleichte „nationale Identität“, sondern zielt auf eine politische Form, in der die Probleme der Tagespolitik stets offen diskutiert und niemals endgültig geregelt werden können. Er markiert keinen deutschen Sonderweg, sondern ein modernes Konzept des demokratischen Nationalstaats westlicher Prägung: eben weil seine republikanische Emphase in die Frage nach der Verfassung der politischen Freiheit mündet. Dabei gelangen Nation und Republik zur Deckungsgleichheit. Nationale Einheit und demokratische Freiheit ergänzen einander, sind zwei Seiten ein und desselben Verfassungspatriotismus. In den Worten Sternbergers: „Das Vaterland ist die ,Republik‘, die wir uns schaffen.“ Horst Meier

Publizist in Hamburg