: Das Überleben lernt man sowieso woanders
Überall in Afrika steckt das Bildungswesen in der Krise. In Senegal sind Lehrer und Schüler finanziell und moralisch am Ende – die ratlose Regierung behilft sich mit Reformankündigungen ohne Geld ■ Aus Dakar Craig Naumann und Alassane Faye
Der neue Menschentypus, den es auszubilden gilt, wird ein mit sich selbst versöhnter Mensch sein, tolerant, aktiv und kreativ, mit Bürgersinn, Moral und Patriotismus begabt. Die neue Schule wird daher national und demokratisch, von dem Volk für das Volk konzipiert, offen für das Leben, eine Quelle der Völkerverständigung und des Friedens.“ Das steht in einer neuen Werbebroschüre der Regierung des westafrikanischen Senegal, die eine Schulreform namens „Ecole Nouvelle“ anpreist. Ziel sei ein Schulwesen, das „zur Förderung einer Gesellschaft der sozialen Gerechtigkeit, der Demokratie, des Fortschritts beiträgt, ökonomisch, sozial und kulturell befreit, aufbauend auf positiven traditionellen Werten und zugleich offen für andere wissenschaftliche und technologische Werte...“
Mit der Realität hat das nichts zu tun. In Afrika ist das Schulwesen in einem Zustand der Verelendung. Der Staat schafft es nicht mehr, seine Mission der Massenbildung zu erfüllen.
Seit der Kolonialzeit gibt es in Senegal ein „modernes“ öffentliches Schulwesen. In dem zu 95 Prozent islamischen Land koexistiert dieses mit einer alten Koranschulentradition. Die meisten Senegalesen haben beide Arten der Schulbildung goutiert.
Dennoch sind heute 74 Prozent der Senegalesen Analphabeten. Der Staatssekretär für Alphabetisierung und Förderung der einheimischen Sprachen – ein 1993 geschaffener Posten innerhalb des Bildungsministeriums – will diese Rate bis zum Jahr 2004 um fünf Prozent jährlich senken und dazu noch die sozialen Ungleichheiten ausradieren. Ernst genommen, wäre dieses Reformprogramm für den senegalesischen Staatshaushalt eine schwere Last. Die Realität: Das Budget des Alphabetisierungs-Staatssekretärs beträgt dieses Jahr etwa 8 Millionen CFA- Francs – 24.000 DM.
Ansetzen müßte eine Bildungsreform wohl ganz woanders. Der 24jährige Abdou hat gerade sein bac, sein Abitur, bestanden. Er war sieben Jahre auf der Grundschule und dann vier Jahre auf der Oberschule, hat also – da die eigentliche Einschulungsdauer sieben Jahre beträgt – viermal nachgesessen. Nun hat er trotzdem sein Abitur und damit ein Recht auf einen Studienplatz. So kann er drei Jahre lang studieren – an der Cheikh- Anta-Diop-Universität in Dakar, wo es 20.000 Studenten auf 3.500 Plätzen gibt. In einem Klassenzimmer findet man oft 70 bis 80 Lernende, zu dritt oder viert an einem Tisch. In den Schulen kommen oft 60 Schüler auf eine Klasse, davon ein Drittel nicht offiziell eingeschriebene. 1982 erfand die Regierung das System double flux: Zweischichtbetrieb in den Schulen, vor- und nachmittags. Jede Schicht zählt in einer typischen Vorstadtschule 100 bis 130 Schüler. Die Lehrer kennen sie oft gar nicht. Mit einem Bevölkerungswachstum von 2,7 Prozent kommen jedes Jahr in Senegal 10.000 Schüler dazu. In einer Oberschule in der Dakarer Vorstadt Pikine war unlängst der Lehrer, der seinen Schülern ein Schulbuch zeigte, äußerst überrascht und verlegen, als er gefragt wurde, wo es dieses Buch denn zu kaufen gebe. Pikine – mit einer Million Einwohnern von insgesamt sieben Millionen Senegalesen der größte Slum-Vorort der Hauptstadt Dakar – zählt keinen einzigen Buchladen; der nächste ist fünfzehn Kilometer weit weg in der Innenstadt. Sogar an der Universität besitzen manche Fakultäten gerade mal drei Bücher, und oft sind die wichtigen Seiten schon herausgerissen. Öffentliche Büchereien gibt es in Senegal nicht.
Die Moral der Lehrer ist unter diesen Umständen äußerst niedrig, zumal die Gehälter oft spät kommen und zum Beispiel die Benoter der Abiturarbeiten von 1992 noch immer nicht bezahlt worden sind. Zumeist wenden sie weniger Zeit für die Vorbereitung des Unterrichts auf als für die Suche nach Schwarzarbeit, um das Monatsende zu überstehen – xarmat, Holzfällen, heißt das in der Landessprache Wolof. Die Lehrerzimmer gleichen manchmal Markthallen: Lehrer verkaufen ihren Schülern Stoffe und Konsumgüter. Manche arbeiten auch nebenbei für Privatschulen, wo sie immerhin stündlich 1.000 bis 1500 F.CFA (drei bis vier Mark) verdienen, oder geben lukrativen Nachhilfeunterricht, für den reiche Eltern monatlich 40.000 bis 50.000 FCFA (130 bis 160 Mark) ausgeben. Zum Vergleich: Ein junger Schullehrer an der Mittelschule verdient monatlich 90.000 FCFA (300 Mark), ein Universitätsprofessor 120.000 FCFA (400 Mark) – und muß davon nicht nur sich, sondern auch seine im Heimatdorf verbliebene Familie ernähren.
Sie haben auch andere Schwierigkeiten: In der Stadt Kaolack verfolgten Sicherheitskräfte streikende Schüler bis in das Lehrerzimmer hinein und malträtierten die anwesenden Lehrkräfte. In der Region Ziguinchor wurde das Haus des Schulrektors im Zuge eines Schülerstreiks abgefackelt.
Die Ergebnisse dieser Zustände verwundern kaum: 70 bis 90 Prozent der Studenten an der Universität von Dakar fallen jedes Jahr durch. 1991 schafften 37 von 600 Jurastudenten und 29 von 700 Wirtschaftsstudenten ihre Examen. Aber wer durchfällt, darf nachsitzen – und damit verstärkt sich jedes Jahr die Überfüllung.
Daß die Diplome der Universität international nicht viel gelten und dieses Jahr zum ersten Mal nicht einmal die Universität ihre eigenen Zwischenprüfungen mehr anerkennt, hebt nicht gerade die Moral der Studenten. Wie man in Senegal überlebt, lernt man ohnehin nicht in der Schule, die nur dazu gedacht ist, Schüler auf nicht vorhandene Arbeitsplätze vorzubereiten. Zwei- bis dreitausend Diplomträger laufen derzeit in einem Zustand fortschreitender Armut auf den Straßen Dakars herum, auf der Suche nach irgendeiner Arbeit. Nur sechs Prozent der senegalesischen Bevölkerung arbeitet noch in der darniederliegenden „formalen“ Wirtschaft.
Manche Studenten wählen inzwischen Wege, die kein Intellektueller vorher in Erwägung gezogen hätte: Sie melden sich freiwillig zur Armee, oder sie werden „ewige Studenten“, die im staatlich subventionierten Centre des Oeuvres Universitaires in Dakar überleben: Frühstück zu einer Mark, Mittag zu drei, medizinische Versorgung gratis. Die internationalen Geldgeber haben jetzt verlangt, die Subventionen für das Centre zu streichen, aber bisher traut sich der Staat nicht. So werden jetzt lediglich die Einschreibgebühren für die Universität auf 50.000 FCFA (150 Mark) verzehnfacht, und das Abitur soll nicht mehr automatisch einen Studienplatz garantieren – Maßnahmen, die bereits in anderen afrikanischen Ländern zu Unruhen geführt haben.
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