■ Der Schriftsteller Ian Buruma über ein Gespräch zwischen Günter Grass und Kenzaburo Oe auf der Buchmesse 1990: Wahlverwandte
Es ist einer der Gemeinplätze unseres Zeitalters, daß zwei der alten Achsenmächte zwar den Krieg verloren, dafür aber den Frieden gewonnen haben. Viele Menschen fürchten die Macht Japans und Deutschlands. Europäer haben Angst vor deutscher Vorherrschaft. Einige Amerikaner haben die wirtschaftlichen Auseinandersetzungen zwischen den USA und Japan als Krieg beschrieben. Was viele Menschen anderer Länder beunruhigt, eben die wachsende Macht Deutschlands und Japans, das beunruhigt auch viele Deutsche und Japaner. Wenn diese beiden Völker seit dem Krieg noch etwas gemein haben, dann ist es ein tiefsitzendes Mißtrauen gegen sich selbst.
Ohne großen Aufwand oder besondere Feierlichkeiten wurden die beiden deutschen Staaten 1990 während der Woche der Frankfurter Buchmesse offiziell vereint. Jedes Jahr wählt die Buchmesse die Literatur eines bestimmten Landes zum Schwerpunktthema. 1990 war die Wahl auf Japan gefallen. Im Rahmen der Sonderveranstaltungen fand eine Podiumsdiskussion zwischen Günter Grass und dem japanischen Romancier Kenzaburo Oe statt. Beide Männer sind während des Kriegs aufgewachsen, beide waren in ihrer Schulzeit militaristischer Indoktrination und Propaganda ausgesetzt, und beide machten sich zum literarischen Sprachrohr des Antifaschismus, auch wenn Oe sich im Gegensatz zu Grass in der letzten Zeit wenig zu politischen Fragen geäußert hatte. Und beide sind überzeugte „Liberale“. (Ich benutze das Wort in diesem Buch im Sinn des amerikanischen liberal.)
Es war eine erstaunliche Veranstaltung. Grass begann mit einem Klagelied über die deutsche Vereinigung. Auschwitz, so sagte er, hätte die Wiedervereinigung unmöglich machen müssen. Ein vereintes Deutschland sei eine Gefahr für sich selber und für die ganze Welt. Oe nickte ernst und fügte hinzu, daß Japan eine ebenso große Gefahr darstelle. Die Japaner, sagte er, hätten sich mit ihren Verbrechen niemals auseinandergesetzt. Japan sei ein rassistisches Land. Ja, aber das sei Deutschland auch, beteuerte Grass, der sich nicht übertrumpfen lassen wollte, auch Deutschland sei ein rassistisches Land, ja noch viel schlimmer, man müsse bloß an den Haß gegen Polen, gegen Türken, gegen Ausländer im allgemeinen denken. Ah, sagte Oe, aber man dürfe dabei nicht die japanische Diskriminierung der Koreaner und der Ainu vergessen, nein, die Japaner seien eindeutig die Schlimmeren.
Diese Litaneien über deutsche und japanische Verfehlungen wurden eine Zeitlang fortgesetzt. Dann entstand eine Pause. Beide Männer suchten nach einem anderen Gesprächsstoff. Das Schweigen wurde unerträglich. Die Zuschauer rutschten auf ihren Sitzen hin und her, bereit zum Aufbruch. Aber dann, als angemessenen Abschluß einer Begegnung in geistiger Wahlverwandtschaft, fand man wieder festen Boden. Ich weiß nicht mehr, wer es war, Grass oder Oe, der das Thema aufgriff: Mitsubishi und Daimler-Benz hatten die Aufnahme „neuer, kooperativer Beziehungen“ ihrer Unternehmen bekanntgegeben. Journalisten sprachen bereits von der Achse Daimler-Mitsubishi. Mit feierlichen Mienen bestätigten sich Grass und Oe, daß dies bloß der Anfang einer gefährlichen Freundschaft sei. Dann erhob sich Grass, und Oe verschwand fast in seiner Umarmung; er dürfte an solche Gesten kaum gewöhnt sein, aber er versuchte, sie trotzdem nach besten Kräften zu erwidern. Ian Buruma
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