: Der Bremer Lust am Lotterleben
■ Bremen schwelgt in den „Pariser Nächten“ des Toulouse-Lautrec, und die Kunsthalle wird zum Montmarte des Nordens
Endlich ist der Herr mit den hochroten Ohren an der Reihe. Ist es die Vorfreude, mal einen Blick aufs Altpariser Lotterleben werfen zu dürfen? Gar leichte Scham? Oder ist es einfach die Bremer Saukälte, die um die kleine Wellblechhütte vor der Bremer Kunsthalle streicht? Gleichviel: Der rote Herr steht Schlange, und mit ihm über 10.000 Gleichgesinnte. Soviel Publikum zählte die Kunsthalle in den ersten 14 Tagen ihrer Toulouse-Lautrec-Ausstellung, verheißungsvoll „Pariser Nächte“ betitelt – das zieht: Die Hanseaten und ihre Gäste wärmen sich wonniglich an der Inszenierung des „savoir vivre“ im Museum; täglich tummelt sich nun ein selten munteres Völkchen, wo zuletzt eher Grabesstille gähnte.
Auf dem roten Plüschsofa ist endlich wieder Platz frei; drei Damen lassen sich in die Sammetpolster sinken. „Ach, ich mag eben seine schwungvolle Art zu malen“, sagt Frau Geile. Früher sei Toulouse-Lautrec sogar ihr „Lieblingsmaler“ gewesen; diverse Kunstbände lägen zuhause –rum. Heute aber treibt sie vor allem „die Faszination an der Pariser Lebensart“ ins Museum. Da stimmen Frau Mindermann und Frau Wöckener zu.
„Bremen und Toulouse-Lautrec“, das passe eben zusammen, sagt Direktor Wulf Herzogenrath. Schließlich zeigten die Bremer schon 1906 die erste umfassende Schau mit über 300 Werken: Bremer Kunstfreunde wie Direktor Pauli oder der Sammler H.H. Meier hatten sich frühzeitig für Kunst und Leben rings zum den Montmartre begeistert und qua Druckgrafik ein Stück des Zaubers in den kühlen Norden gebracht. „Man konnte auf alles, was der eigenen Kultur fremd war, mit der Mentalität des Touristen reagieren“, heißt es im Katalog über die damalige Begeisterung am leichten Leben.
So glimmt auch in der neuerlichen Ausstellung die heimliche Bremer Freude am Pariser Nachtleben. Operettenmusik weht durch die Säle; Fotos vom tollen Menschenleben am Montmartre stimmen das Publikum ein; das Licht ist auf Kaschemmentemperatur gedimmt – eine konservatorische Notwendigkeit, die aber der allseits säuselnden Kuschelatmosphäre nochmals Nachdruck verleiht.
Toulouse-Lautrec? Nein, „den Namen hab' ich noch nie gehört“, sagt ein Besucher, den ein Gruppenausflug vom Zentralkrankenhaus Ost ins Museum verschlagen hat. Aber die Leute auf den Bildern, die kennt er schon. Vor allem den „Mann mit dem roten Schal“, bekannt von diversen Werbeplakaten. Was lag da näher, als den markanten Schalträger auch als Ausstellungsplakat zu nehmen? Und als Aufkleber? Als Anstecknadel? Als Sammeltasse?
Die Werbeagentur KPS ist jedenfalls immer noch ganz begeistert von der Idee, das Motiv – eigentlich eine Darstellung des Pariser Chansonniers Aristide Bruant – ganz groß rausgebracht zu haben. Sogar „als Aristide verkleidete Studenten“ habe KPS in Umlauf gebracht. Projektleiterin Böhme erzählt, wie die Kostümierten in 41 norddeutschen Städten Werbung liefen. Bequemerweise saßen sie dann auch in den Lokalredaktionen Frage und Antwort, „da haben wir von den Redaktionen die Werbung praktisch umsonst gekriegt.“
Sowas rechnet sich. Nicht nur die alten Bremer kommen wieder in die Kunsthalle. Busgesellschaften aus der halben Republik werden täglich vor dem Wellblechkassenhäuschen abgeladen; Reisende aus Holland, England, Schweden machen Station auf dem Bremer Montmartre. „Und je weiter der Weg ist, desto mehr nehmen die Besucher mit“, stimmt Ruth Mende vom Kunstverein in die allseitige Freude ein. Sie organisiert nämlich den Andenkenverkauf: Wer Aristide Bruant in der Ausstellung und drumrum gesehen hat, der kann ihn dann zum gelungenen Ausklang auch noch im Museumsshop mitnehmen – als Mokkatasse, Kaffeestampfer, Schal oder Schlips. Die Seidenkrawatten, handbemalt, lasse der Kunstverein sonderanfertigen, eigens für die Schau; der Rest der Devotionalien stamme aus der Merchandising-Abteilung des Pariser Grand Musee National. „Für 100, 200 Mark nehmen manche Leute schon was mit“, sagt Frau Mende – zusätzlich zum Katalog. Wers leichter liebt, kann ersatzweise das Kochbüchlein zur Kunstschau erstehen: „Kochen mit Toulouse-Lautrec – der Maler des Montmartre als Gourmet“, mit 160 Rezepten.
„Gekauft wird erstaunlicherweise alles“, sagt Mendes Kollegin Helga Vierow. Die ehrenamtliche Verkaufskräfte fahren Schicht auf Sonderschicht; schon wird der nächste Schwung Aristide-Krawatten geordert. 70.000 Besucher sollen's bis Ende Januar werden, hofft Herzogenrath. Und Frau Vierow freut sich schon mal aufs Weihnachtsgeschäft. tom
„Pariser Nächte“, Druckgrafik von Henri Toulouse-Lautrec, bis 22.1.1995 in der Kunsthalle Bremen
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