: Maulwurf an Hauptschlagader
■ Seit Montag wird an einem der wichtigsten Verkehrsknotenpunkte der Stadt gebaut - auf der S-Bahn-Strecke zwischen Bahnhof Zoo und Hauptbahnhof
„Ihrem Maulwurf ziehe ich die Stummelbeine lang!“ brüllt ein aufgeregter Mann mit wedelndem Aktenkoffer, als ihm ein Agitator der Bahn ein Stoffmaskottchen übereichen will. Der wutschnaubende Herr hatte bei der Fahrt zum Arbeitsplatz vergeblich auf die Station Jannowitzbrücke gewartet. Dieser ist nämlich seit Montag gänzlich außer Betrieb, die S-Bahn rauscht auf Ferngleisen an ihr vorbei.
Dies ist jedoch erst der Anfang: In zehn Tagen wird in den Bahnhöfen Tiergarten und Bellevue ebenfalls keine S-Bahn mehr halten. Für die nächsten zwei Jahre muß dort mit einem Schienenersatzverkehr vorlieb genommen werden. Ein kleiner Vorgeschmack auf die kommenden Strapazen wird Nachtschwärmern schon seit dem Wochenende geboten. Von 22 bis 1 Uhr herrscht auf der Strecke Alexanderplatz–Zoo ein nervenzerreißender Pendelverkehr. Insgesamt viermal darf man den Zug wechseln, in weniger als einer Stunde schafft man den Weg nicht.
Während Volkswagen für den neuen Polo mit einem athletischen 100-Meter-Sprinter wirbt, hat sich die Deutsche Bahn AG für Berlin für ein bescheideneres Maskottchen entschieden: ein pummeliger Maulwurf. Seit Monaten bot er auf Plakaten aufmunternde Sinnsprüche feil, um die Fahrgäste psychologisch auf den Tag X vorzubereiten: den Beginn der Totalsanierung der Stadtbahn.
Montag morgen war es dann soweit. Am Hackeschen Markt wurden die Weichen auf die Fernbahngleise umgestellt. Seitdem knieen Herren in orangefarbenen Overalls über den alten Gleisen und setzen ihnen mit riesigen Schweißgeräten zu. Es ist der Beginn eines aufwendigen operativen Eingriffs an der Hauptschlagader des öffentlichen Verkehrsnetzes – der Strecke vom Bahnhof Zoo bis zum Hauptbahnhof. Bis zum Jahre 1997 sollen die 8,8 Kilometer lange S-Bahnstrecke und die parallel verlaufende Fernbahn vollständig saniert werden. Die letzte Instandsetzung der vor 112 Jahren eröffneten Strecke fand in den zwanziger Jahren statt.
Zunächst werden die Stadtbahngleise ausgewechselt. Bis Juni 1996 wird die S-Bahn deshalb auf den Fernbahngleisen fahren. Aus Westen kommende Fernzüge enden dann schon im Bahnhof Zoo. Danach ist bis 1997 der Ausbau der Fernbahnstrecke sowie ihre Elektrifizierung geplant. Doch nicht nur die Gleisanlagen werden erneuert. Aufgrund der schweren Hochgeschwindigkeitszüge, die zukünftig über die Strecke donnern sollen, müssen über 500 Viaduktbögen erneuert, 44 Brücken instandgesetzt und 10 Brücken neu gebaut werden. Außerdem sollen die Bahnhöfe behindertengerecht gestaltet werden. Dazu sind umfassende Modernisierungsarbeiten notwendig, Rolltreppen und Fahrstühle müssen installiert werden.
Die Bahnhöfe Friedrichstraße und Alexanderplatz werden zu Regionalbahnhöfen ausgebaut. Züge aus Frankfurt/Oder werden dann dort ebenfalls einfahren.
Am Hackeschen Markt wurde ein provisorischer Bahnsteig aus Holz und Stahl errichtet, an dem allerdings nur Züge in Richtung Osten halten. Wer zur Friedrichstraße fahren will, muß paradoxerweise zunächst zum Alexanderplatz fahren und dort in den Gegenzug steigen. Noäl Rademacher
Für den fehlenden Bahnhof Jannowitzbrücke kann man auf die U 8 und den Bus 240 ausweichen. Ab 29.10. bietet für die geschlossenen Stationen Tiergarten und Bellevue eine neue Buslinie Ersatz. Die Bauarbeiten sollen im Februar 1996 beendet sein.
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