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Spiel mir das Lied vom Tod

Im „Fall Kaindl“ fokussiert sich das seit Ende der achtziger Jahre veränderte, polarisierte Deutschland /  ■ Von Eberhard Seidel-Pielen

In der Nacht zum 4. April 1992 wurde Gerhard Kaindl, Schriftführer der „Deutschen Liga“, Opfer eines Haßverbrechens. Ein „antifaschistisches“ Rollkommando griff ihn und seine politischen Freunde mit Baseballschlägern, Messern, einem zugespitzten Bandeisen, einer Metallstange und einer Gaspistole an. Gerhard Kaindl starb an den Folgen dreier Messerstiche, Thorsten Thaler wurde durch drei Stichverletzungen in den Bauch schwer verletzt.

Der Tatbestand

3. April 1992. Nach einer Veranstaltung des rechtsextremen Hoffmann-von-Fallersleben-Bildungswerks zum Thema „Deutsche Minderheiten in Ostpreußen“ lassen einige der Versammlungsteilnehmer den Abend im Restaurant „Jin-Shan“ ausklingen. Carsten Pagel, Ex-Landesvorsitzender der „Republikaner“ in Berlin, das Ende 1992 ausgestiegene Mitglied der Deutschen Liga (DL) Thorsten Thaler, die DL-Aktivistin Gabriele Hartung, der rechtsextremistische Verleger Dietmar Munier und zwei aus Norddeutschland angereiste Gäste bereiten die Veranstaltung nach. Karten des „Deutschen Reiches“, Ostpreußens sowie der Hofanlage und des Gestüts Trakehnen sind ausgebreitet. Gegen 23 Uhr tritt ein Rosenverkäufer an den Tisch. „Diese Personen kaufen nichts, das sind Republikaner“, informiert der am Nebentisch sitzende Ekrem B. den fliegenden Händler. Bevor Ekrem B. aufbricht, stellt er die Ostpreußen-Fans nochmals zur Rede. Aus der Gruppe wird ihm geantwortet: „Paß auf, wenn du auf die Straße gehst: du weißt ja, Berlin ist sehr unsicher geworden.“ Aufgebracht fährt Ekrem B. nach Kreuzberg, berichtet in einem Szene-Treff von dem verbalen Schlagabtausch. Wenig später macht sich ein bewaffneter Trupp auf den Weg. Zu diesem Zeitpunkt ist nur die Identität Carsten Pagels bekannt. Weshalb konnte der „smarte“ Rechtsanwalt diesen Haß entfesseln?

Die Vorgeschichte

2. Januar 1989. Im Dritten Programm des Senders Freies Berlin wird anläßlich der anstehenden Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus ein Werbespot der „Republikaner“ ausgestrahlt. Verzerrte Gesichter türkischer Einwanderer und ihrer spielenden Kinder werden gezeigt – unterlegt wurde das Machwerk mit der Filmmusik aus „Spiel mir das Lied vom Tod“. Trotz heftiger Proteste wird der SFB durch eine einstweilige Anordnung des Verwaltungsgerichts verpflichtet, den Wahlspot am 19. Januar zur besten Sendezeit erneut auszustrahlen. Die Hetztirade wird zum Medienereignis und macht die „Republikaner“ zum Stadtgespräch. Am 29. Januar 1989 erzielen sie 7,5 Prozent der Stimmen und ziehen mit elf Mandaten triumphierend in das Abgeordnetenhaus ein. Unter ihnen der damals 25jährige Carsten Pagel, der sich zum Chef-Ideologen und damit zum Haßobjekt entwickelt.

Antifașist Gençlik

Geleitet wurde der „antifaschistische“ Übergriff im April 1992 – so der Stand der staatsanwaltschaftlichen Ermittlung – von führenden Mitgliedern der „Antifașist Gençlik“ (Antifaschistische Jugend). Die Gruppe hatte sich als unmittelbare Reaktion auf den Wahlspot „Spiel mir das Lied vom Tod“ und den Wahlerfolg der „Republikaner“ gegründet. „Angst war unser Motiv. Nachdem die Reps in das Abgeordnetenhaus gewählt wurden, dachten wir, jetzt geht es los“, berichtete damals einer der Gründer.

Die Befürchtungen wurden bestätigt. Am 20. April 1989, dem hundertsten Geburtstag Adolf Hitlers, kündigen Neonazis bundesweit Übergriffe auf Immigranten und ihre Geschäfte an. Panik und Paranoia erfaßt die (West-)Berliner Szene. Antifaschisten, deutsche und viele Jugendliche aus Immigrantenfamilien organisieren den Selbstschutz ihrer Wohnviertel. Ein Drittel der „ausländischen“ Kinder vor allem aus türkischen Familien bleibt am 20. April dem Schulunterricht fern. Am 12. Mai 1989 fordert die „Anti-Ausländer- Stimmung“ ihr Opfer. Im Märkischen Viertel stirbt Ufuk Șahin an den Messerstichen eines wildgewordenen Deutschen.

Überall in den Einwandererquartieren werden Jugendcliquen und -gangs durch die sich überschlagende Entwicklung politisiert. Ihre Wut über tatsächliche und vermeintliche Diskriminierung verschafft sich häufiger als in der Vergangenheit gewaltsam Luft – vor allem nach Öffnung der Mauer. Es war kein organisierter politischer Widerstand, sondern spontane Rebellion gegen die Folgen der sozialen Ausgrenzung und des Rechtsdrifts der Republik.

Die Zeit war reif für eine politische Interessenvertretung der Heranwachsenden aus Zuwandererfamilien. Aber wer sollte sie organisieren? Die Mobileren unter ihnen waren fest eingebunden in eines der zahlreichen soziokulturellen Projekte Berlins, andere bastelten an ihrem individuellen sozialen Aufstieg. Auch die zahlreichen bestehenden politischen Interessenvertretungen der Migranten scheiterten an dieser Herausforderung. Antifașist Gençlik – von Vertretern der „Zweiten Generation“ im Alter um die 30 gegründet – wollte dieses gesellschaftspolitische Vakuum ausfüllen. Die Aktivisten suchten den Kontakt zu den Jugendlichen auf der Straße, bauten Treffpunkte auf, organisierten HipHop-Feten und wollten die rivalisierenden Gangs zu einer „Anti-Nazi-Liga“ vereinigen – mit bescheidenem Erfolg. Zwar wollten viele etwas gegen Nazis tun, aber für revolutionäre Tagträume waren sie nicht zu gewinnen.

Mit der Zunahme rechtsradikaler Übergriffe und rassistischer Morde rückte bei Antifașist Gençlik die militante Aktion, der „Kriegszustand“, ins Zentrum. Ansätze wie zum Beispiel die Errichtung eines selbstverwalteten Jugendzentrums wurden nicht weiter verfolgt. Ob bei der „Deutschland-halt's-Maul“-Demonstration am 3. Oktober 1990, beim Zurückdrängen des Einflusses der Aktivitäten der neonazistischen „Nationalen Alternative“ in Berlin-Lichtenberg in den Jahren 1990 und 1991 oder bei der Randale nach dem Tod von Mete Ekși am 13. November 1991, stets kämpften Mitglieder von Antifașist Gençlik mit in der ersten Reihe – und heizten die Stimmung an. Der Kampf wurde auch an der „inneren Front“ in Kreuzberg geführt. Besondere „Aufmerksamkeit“ wurde Repräsentanten von Immigrantenorganisationen, die als reformistisch und staatstragend galten, mißliebigen Jounalisten oder Sozialarbeitern geschenkt, die mit den umworbenen Jugendlichen anders arbeiten als man selbst.

Antifașist Gençlik, seit Jahren Beobachtungsobjekt des Berliner Verfassungsschutzes, forderte die Staatsschützer offensichtlich derart heraus, daß sie nicht nur bei den Verhören jugendlicher Tatverdächtiger (siehe taz vom 15. 10. 94) „unkonventionelle“ Wege beschritten. Sie haben nachweislich personenbezogene Daten an die Deutsche Liga weitergegeben.

Staatsschutz

Im Oktober 1992 droht die Deutsche Rundschau, die bundesweite Zeitung der Deutschen Liga: „Kaindl-Mord: Wir kriegen euch alle!“ Vergeltungsanschläge werden angekündigt. „Wie es der Zufall so will: die Namen und Anschriften der türkischen Mörder sind inzwischen bekannt. Es gibt rechte Kreise in unserer Republik, die sich sehr dafür interessieren, wer denn Ihren Kameraden Kaindl umgebracht hat.“ Es handelt sich dabei keineswegs um verbale Kraftmeierei. Einen Monat vor Veröffentlichung des Artikels – im September 1992 – erhält das damalige DL-Mitglied Thorsten Thaler in Kiel Besuch. An seinem Arbeitsplatz im von dem rechtsextremen Multi-Funktionär Dietmar Munier geleiteten Arndt-Buchdienst legen zwei aus Berlin angereiste Staatsschutzbeamte DIN-A5- große Karteikarten vor. „Auf der rechten Seite war ein Lichtbild angebracht, auf der linken Seite standen die persönlichen Daten – Name, Geburtsdatum und Wohnadresse“, berichtet Thorsten Thaler im September 1993, neun Monate nach seinem Austritt aus der Deutschen Liga, gegenüber der taz. Die Daten, die Thorsten Thaler bei diesem Treffen nennt, stimmen mit denen einer Person überein, die im Abschlußbericht der „Soko Kaindl“ vom 10. Februar 1994 als Mitglied von Antifașist Gençlik und Kontaktperson der Tatverdächtigen Fatma B. aufgeführt wird.

Eine Weitergabe von Daten an die Deutsche Rundschau bestreitet Thaler: „Die Infos stammen nicht von mir.“ Unklar bleiben dennoch die Motive, aus denen er sich (nach seinem Austritt aus der Deutschen Liga) mit einem Jahr Verzögerung gegenüber zwei Journalisten „outete“. Hatte er das Gefühl, nicht mehr zu überblicken, was seine alten Parteigänger mit den Informationen anfangen werden? Die Radikalisierung der Deutschen Liga war für ihn auf jeden Fall der Grund seines Ausstiegs: „In der Deutschen Liga gab es bereits 1992 keine Abgrenzung mehr zu gewaltbereiten Gruppen wie ,Nationalistische Front‘ und ,Deutsche Alternative‘, da war für mich Schluß.“

War der „leichtfertige“ Umgang der Staatsschützer mit den Daten Tatverdächtiger eine Panne? Oder muß er nach den im vergangenen Sommer bekanntgewordenen engen Beziehungen, die Hans-Christoph Bonfert, suspendierter Sprecher des Berliner Innensenators Dieter Heckelmann, mit Hans-Ulrich Pieper, Organisator des „Dienstags-Gesprächs“, sowie Vertretern der Jungen Freiheit pflegte, neu interpretiert werden?

Die Fakten: Thorsten Thaler, seit Jahren freier Mitarbeiter der Jungen Freiheit, arbeitete 1992 in Kiel bei Dietmar Munier. Am Abend des 3. April 1992 kam Munier von einer Reise aus der baltischen Republik Litauen direkt nach Berlin. Zu diesem Zeitpunkt konzentrierten sich die Aktivitäten bundesdeutscher Rechtsextremisten und Rechtskonservativer auf Kaliningrad und die „ehemaligen deutschen Ostgebiete“. 1993 gründete Munier schließlich die „Aktion deutsches Königsberg“ und die „Gesellschaft für Siedlungsförderung in Trakehnen mbH Kiel“ mit dem Ziel, Rußlanddeutsche in Trakehnen anzusiedeln. Hier treffen sich gemeinsame politische Interessen von Munier, Hans-Ulrich Pieper und dem ehemaligen Sprechers des Berliner Innensenators, Hans-Christoph Bonfert, der im Redaktionsgremium der Vierteljahrszeitschrift Paneuropa-Deutschland gemeinsam mit Personen wie Heinrich Lummer ebenfalls für eine russisch-deutsche Republik Königsberg eintritt.

Unterstützerszene

Die Praxis des Staatsschutzes, jugendlichen Tatverdächtigen mit Versprechen zweifelhafte (und unhaltbare) Geständnisse zu entlocken, eine ganze Szene pauschal zu kriminalisieren und an dem Übergriff nachweislich nicht Beteiligte vorschnell in U-Haft zu setzen, macht es unerläßlich, den Prozeß sehr genau zu beobachten. Eine wichtige Aufgabe, der sich auch Unterstützerkreise wie das Antifașist Gençlik-Komitee verschrieben haben. Entschieden ist ihnen allerdings zu widersprechen, wenn sie die Tötung Gerhard Kaindls als vorauseilende Verhinderung von Rassismus verstanden wissen möchten. Es reichte allein das Gerücht, in einer Kneipe säßen ein paar Nazis, um einen Trupp in Bewegung zu setzen, der schwer bewaffnet friedlich am Kneipentisch sitzende Menschen überfiel. Daran ändern auch sprachliche Verniedlichungen nichts, nachzulesen in der „Zeitung gegen die Kriminalisierung von Antifaschisten“ Herzschläge und der Tageszeitung Junge Welt: „Gerhard Kaindl ist an einer folgenschweren Auseinandersetzung zwischen sieben Führungspersönlichkeiten faschistischer Organisationen und acht bis zehn Antifaschisten wenige Stunden später seinen Verletzungen erlegen.“ Erstens: es war keine „folgenschwere Auseinandersetzung“, sondern ein hinterhältiger Überfall. Zweitens: die Überfallenen waren keine „Faschisten“, sondern parteilose Rechte, organisierte Rechtsextremisten und Rechtskonservative – durchaus ein Unterschied. Drittens: Gerhard Kaindl „erlag“ keineswegs „wenige Stunden später seinen Verletzungen“, sondern krepierte, nachdem seine Lunge mit einer 25 Zentimeter langen Messerklinge zerfleischt wurde, noch in der Kneipe.

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