Sturz im Badezimmer

Unerbittlich bestehen die Christen auf Leiden und Kreuz. Nun will der Papst mit seinen Schmerzen die Welt erlösen. Eine Gegenrede zu seinem Buch  ■ Von Uta Ranke-Heinemann

Der Papst hat einen Wunsch für die Leser seines soeben erschienenen Buches „Die Schwelle der Hoffnung überschreiten“: „Von seinem Bett im Krankenhaus aus, wo er sich nach seinem schmerzhaften Sturz befand, versicherte Johannes Paul II., daß er einen kleinen Teil seines Leids auch den Lesern dieses Textes schenken wolle“, schreibt der italienische Journalist Vittorio Messori im Vorwort zu diesem von ihm herausgegebenen Papstbuch. Und abschließend versichert er, daß wir, die Leser, dem Papst „auch dafür dankbar sind“ (S. 28).

Manche Leute haben den Wunsch, anderen Leuten Freude zu schenken, der Papst will anderen „einen kleinen Teil seines Leids“ schenken. Manche Leute wünschen anderen Leuten die Pest an den Hals, das meint der Papst natürlich nicht. Aber ein bißchen Sturz wünscht er uns, ein bißchen Krankenhausaufenthalt? Und wenn der Papst Krebs hat, was von manchen behauptet und von allen bedauert wird, vielleicht ein bißchen Krebs? Der Papst drückt sich nicht klar aus. Jedenfalls wir, die Leser, lehnen sein Geschenk dankend ab. Der leidende Papst überhöht und glorifiziert sein eigenes Leiden. Er steigert sich in die Rolle einer Art von leidendem Messias hinein und ist zunehmend davon überzeugt, sein Sturz im Badezimmer habe ähnlich wie das Kreuz Jesu einen heilswirksamen und erlösenden Effekt für die Menschheit: „Ich opfere ihn [den Badezimmersturz] für das Wohl der Kirche und für den Frieden unter den Menschen“, sagte er am Sonntag, 21. November 1993, in Rom anläßlich des Angelusläutens.

Und wenn schon das Leiden des Papstes sinnvoll, wenn nicht gar notwendig für das Heil der Menschheit ist, so ist es das Leiden Jesu und dessen Hinrichtung erst recht und unbedingt. „Wenn es diesen Todeskampf am Kreuz nicht gegeben hätte, so wäre die Wahrheit, daß Gott die Liebe ist, im luftleeren Raum hängengeblieben“, schreibt er (S. 94). Ohne den Galgen Jesu hinge die Liebe Gottes nicht nur im Raum, sondern sogar noch weiter weg: im luftleeren Raum. Die Liebe bedarf des Galgens, als einer Prothese, um sich uns auf Erden präsentieren zu können. Ich persönlich bin weder für den Sturz des Papstes im Badezimmer dankbar, noch möchte ich als Leserin seines Buches vom Papst einen Teil seines Leidens geschenkt bekommen. Und ich bin auch für den Todeskampf Jesu am Kreuz nicht dankbar, wie es der Papst und andere Christen von mir verlangen. Ich bedauere den Sturz im päpstlichen Badezimmer, und den Todeskampf Jesu am Kreuz bedaure ich noch sehr viel mehr.

Aber unerbittlich bestehen die Christen auf Leiden und Kreuz. Dietrich Flade, 1589 als Hexer verbrannt, Rektor der Universität Trier, Dekan der juristischen Fakultät, hatte folgende für ihn tödliche Behauptung aufgestellt: Der Tod Jesu sei nicht erforderlich gewesen. Es hätte auch eine andere Möglichkeit gegeben, die Erlösung der Menschheit herbeizuführen. Flade faselte nicht von einer perversen Liebe, die sich in einer Hinrichtung dokumentieren will.

Seit zweitausend Jahren wollen Kirche und Theologen den Leuten einreden, sie seien durch das Kreuz Jesu erlöst. Wir sollten uns gegen eine solche Vorstellung wehren, ganz abgesehen von der Tatsache, daß wir von überhaupt nichts erlöst sind. Wenn wir die Kreuzigung eines Menschen schon nicht mehr verhindern können, so sollten wir ihr doch wenigstens nicht noch nachträglich zustimmen. Übrigens wäre heutzutage eine Erlösung durch das Kreuz ohnehin nicht mehr möglich, allenfalls durch den elektrischen Stuhl oder die Giftspritze einiger barbarischer Länder in Amerika oder anderswo. Und wäre Jesus dort auf diese moderne Weise hingerichtet worden, so könnte der Papst nicht mehr behaupten: „Gott hat alle mit dem Kreuz ... seines Sohnes umarmt“ (S.101f.); er müßte mit der Zeit gehen und etwa sagen: „Gott hat alle mit dem elektrischen Stuhl ... seines Sohnes umarmt.“ In Deutschland allerdings könnte uns Gott nicht auf derartige Weise umarmen und könnte uns Gott überhaupt nicht mehr erlösen. Denn in Deutschland, da wir keine Todesstrafe mehr haben, würde unsere ganze Erlösung an der Humanität unseres Helmut Kohl scheitern.

Jesus ist für die Christen nur durch seinen Tod wichtig: Alles andere in seinem Leben, abgesehen von der Jungfrauengeburt, die für die Zölibatäre auch sehr wichtig ist, ist für die Christen ohne entscheidende Bedeutung.

Deswegen erfahren wir auch aus dem christlichen Glaubensbekenntnis, der offiziellen Zusammenfassung des christlichen Glaubens, außer der Jungfrauengeburt nichts anderes, als daß Jesus gestorben ist, gekreuzigt und begraben wurde. Das Glaubensbekenntnis macht, nachdem Jesus geboren ist – „Empfangen vom Heiligen Geist, geboren von der Jungfrau Maria“ –, einen Sprung und geht sofort über zu seinem Tod: „gelitten unter Pontius Pilatus, gekreuzigt, gestorben und begraben ...“

Das etwas ausführlichere Glaubensbekenntnis der Messe (Credo) sagt ebenfalls nichts über die Zwischenzeit des Lebens und Wirkens und Verkündens Jesu, sondern fügt nur hinzu, daß die Kreuzigung „für uns“ geschah und „zu unserem Heil“. Was ich erst recht nicht akzeptieren kann.

Jesus hätte genausogut zu Hause sitzen und Kreuzworträtsel lösen können, für das Glaubensbekenntnis spielte keine Rolle, was er zu Lebzeiten tat. Nur eines hätte Jesus nicht gedurft: zu Hause an Fischvergiftung oder Altersschwäche sterben, denn wichtig ist den Christen nur die Grausamkeit seines Todes. Das Christentum vertritt offenbar eine Henker-und- Galgen-Theologie.

Was Jesus betrifft, interessiert die Christen im Grunde nur seine Jungfraumutter und sein Henkervater, der „um unseres Heiles willen“, was immer das ist, seinen Sohn schlachtet. Oder, um mit dem Papstbuch zu sprechen: „War es nötig, daß Gott seinen Sohn am Kreuz opferte, um den Menschen zu retten?“ (S. 89) Der Papst meint: Ja. Aber die Antwort sollte lauten: Nein.

Die Christen sollten befolgen, was Jesus predigte, als er lebte: die Absage an die Vergeltung, die Feindesliebe. Das wäre eine Erlösung, das heißt: die Herauslösung aus einem Teufelskreis gewesen, aber niemals das Blut. Das kann jeder leicht begreifen, der abends das Fernsehen einschaltet und dem dann das Blut über den Wohnzimmerteppich läuft: aus Jugoslawien, Somalia, Ruanda, aus dem Golfkrieg, aus Krieg und Vergeltungsschlägen überall.

Die Christen sind von einem religiösen Blutrausch befallen, wenn sie im altehrwürdigen Kirchenlied „Stabat Mater“ (= es stand die Mutter Maria) zu Maria beten: „Mach mich vom Kreuz und Blut des Sohnes trunken“. Sie liefern ständig zur Kreuzigung einen falschen Text. 1992 war in den französischen Nachrichten im Fernsehen eine öffentliche Hinrichtung zu sehen. In Kabul wurden drei junge Männer gehenkt. Hätte zu den Bildern von der Hinrichtung ein Sprecher einen Text etwa über Pflegeversicherung oder Naturheilverfahren verlesen, wären die Zuschauer mit Recht entsetzt. Aber das Christentum gibt seit zweitausend Jahren zu der Hinrichtung Jesu einen falschen Kommentar und redet von Menschheitserlösung, und keiner stört sich daran.

Dieser falsche Kommentar wird im Christentum sogar dem Opfer in den Mund geschoben: „Dies ist mein Leib, dies ist mein Blut“, soll Jesus vor seinem Tod gesagt haben. Kultuslegende nennt man solch einen Vorgang religionsgeschichtlich. Das heißt: Zuerst war das Gedächtnismahl, dann legte man posthum Jesus die Stifterworte in den Mund. Und schließlich wird der falsche Kommentar sogar Gott zugeschrieben: Gott opferte seinen einzigen Sohn.

Seit Heidengedenken ist Sohnesopfer besser als Tochteropfer und hier wiederum ist besser das Opfer des ersten Sohnes, noch besser das des einzigen Sohnes, am besten das Opfer des erstgeborenen und einzigen Sohnes. Vorchristliches Kindesopfergreuel wird somit christliche Frohbotschaft. Und der Papst meint in seinem Buch: „Dem Gott des Koran werden die schönsten Namen verliehen, über die die menschliche Sprache verfügt, doch der Islam ... hat keinen Platz für das Kreuz ... Das Drama der Erlösung wird vollständig weggelassen“ (S.120). Der Papst sollte den Koran hierin nicht tadeln, sondern loben.

Wie ist die Kreuzigung historisch zu verstehen? Historisch steht fest, daß Jesus gekreuzigt wurde, und zwar nicht „unter“ Pontius Pilatus, wie das Glaubensbekenntnis prorömisch sagt, sondern „durch“ Pontius Pilatus, wie Tacitus richtig schreibt (Annalen 15, 44). Es handelt sich beim Glaubensbekenntnis um eine antijudaistische Römerentlastungs- und Judenbelastungstendenz, wie sie schon in den Passionsgeschichten der Evangelien deutlich wird, nach dem christlichen Motto: Die Juden sind die Feinde der Christen und nicht die Christen die Feinde der Römer. Fest steht hingegen: Die Römer, nicht die Juden, haben Jesus hingerichtet mit der römischen Todesstrafe.

Die Römer waren dabei nicht an Glaubensfragen interessiert. Ihnen ging es lediglich darum, Aufständen zuvorzukommen beziehungsweise sie niederzuschlagen. Was Jesus glaubte, war den Römern gleichgültig. Josephus (gest. etwa 100 nach Chr.) berichtet, daß Herodes Antipas angesichts der großen Menschenscharen, die zu Johannes dem Täufer strömten, fürchtete, Johannes werde das Volk zum Aufruhr treiben. Deswegen ließ er ihn hinrichten (Altertümer 18, 5, 2). Daß die tanzende Salome das Haupt Johannes des Täufers von ihrem Stiefvater Herodes erbat, wie im Neuen Testament geschildert wird, ist eine spätere Legende über den Tod des Täufers.

Was im Falle Johannes des Täufers eintrat, ist ähnlich bei Jesus eingetreten: Die Menschenmengen, die ihm in noch größerem Maße zuströmten als seinerzeit dem Täufer, erregten die Befürchtung der Römer, die Dinge könnten zu einem Aufstand eskalieren. Und die Inschrift am Kreuz „König der Juden“ sollte eine Warnung sein für alle Konkurrenten des römischen Kaisers. Die Situation damals war ständig der Lage vergleichbar, die Josephus so beschreibt: „So war Judäa eine wahre Räuberhöhle, und wo sich nur immer eine Schar von Aufrührern zusammentat, wählten sie gleich Könige“ (Altertümer 17, 10, 8). Die Kette der Hinrichtungen riß nicht ab. Von dem Prokurator Felix (51–62 n. Chr.), laut Tacitus ein Mann „mit einer Sklavenseele“, berichtete Josephus, daß er „tagtäglich eine große Anzahl ergreifen und kreuzigen ließ“ (20, 9, 5). Daß Jesu Tod Erlösung der Welt bedeute, war nach dem Schock über die Hinrichtung eine zwar psychisch tröstende, aber dennoch falsche Deutung seitens seiner Anhänger.

Übrigens auch bezüglich des Begräbnisses Jesu läßt sich die Legendenbildung schon innerhalb des Neuen Testaments mit Händen greifen. Das Markusevangelium (das älteste der vier Evangelien) spricht lediglich von einem „Grab“ (14, 46). Lukas spricht später von einem „Grab, in dem noch niemand gelegen hat“ (23, 53), Matthäus von einer „neuen Grabkammer“ (27, 60) und Johannes schließlich von einem „Garten, und in dem Garten eine neue Grabkammer, in die noch nie jemand gelegt worden war“ (19, 41). In Wirklichkeit wurde Jesus an der Hinrichtungsstätte von den Römern mit den anderen Hingerichteten in einem Massengrab verscharrt.

Abschließend noch einmal der Papst: „Wir haben allen Grund, die Wahrheit über das Kreuz die frohe Botschaft zu nennen“ (S.249). Zur Freude über diese Hinrichtung besteht kein Grund.

Papst Johannes Paul II.: „Die Schwelle der Hoffnung überschreiten“. Hsg. von Vittorio Messori. Aus dem Italienischen von Irene Esters. Hoffmann und Campe 1994, 36 Mark.