: Helvetica kills, Teutonia sucks
■ Schauspielhaus: Johann Kresnik inszeniert „Mars“, Christof Nel „Katarakt“ Von Till Briegleb
Fritz Zorn - Mars
Als das Buch Mars von Fritz Angst, der sich Fritz Zorn nannte, Ende der siebziger Jahre erschien, löste es einen Richtungswechsel im Denken über Krankheit aus. War die Vorstellung, die Entstehung von Krebs könne ein Resultat von Biografie und nicht von Schicksal sein, bis dahin lediglich in Spezialisten- und Esoterikerkreisen geläufig, so diskutierten nach dieser schonungslosen Aufzeichnung des noch vor der Veröffentlichung gestorbenen Schweizer Millionärssohns Medien, Seminare und Privatpersonen über Psychosomatik und gesellschaftliche Ursachen von Krebs. Plötzlich wurde „Krebs“ zu einer geläufigen Metapher, mit der man die Dämonie der tödlichen Krankheit aufzubrechen trachtete und gleichzeitig auf die Konsequenzen von Selbstverleugnung und Verdrängung in allen gesellschaftlichen und menschlichen Zonen hinweisen konnte.
Keine zwanzig Jahre nach der Aufzeichnung und 15 Jahre nach der Veröffentlichung von Mars hat sich der aufklärerische Aspekt dieser Debatte – wie so oft – in einer merkwürdigen Art und Weise gegen sich selbst gekehrt. Inzwischen sind die damals so bestürzenden neuen Gedanken Allgemeingut, das von jedem Groschenblatt transportiert wird, aber mit dem Effekt verknüpft, daß man die psychischen und sozialen Ursachen von Krebs wiederum als schicksalhaft betrachtet und zur individuellen Geschichte rechnet. Der Determiniertheit durch gesellschaftliche Komponenten wird inzwischen ebenso mit einem fatalistischen Schulterzucken begegnet wie früher dem Glauben an Krankheit durch Zufall oder göttliche Fügung. Krebs als Metapher wird auf Krebs nicht mehr angewendet.
So gesehen hat Johann Kresnik den Zeitpunkt für seine zweite Bearbeitung von Mars – die erste lief vor einigen Jahren in Heidelberg – klug gewählt, denn die Brisanz der künstlerischen Analyse tritt vor dem Hintergrund des gesellschaftlichen Desinteresses an dem Thema umso krasser hervor. Und wie es Kresnik so zueigen ist, verschärft er die Blende der Betrachtung noch, bis eine Eindrücklichkeit erreicht ist, die Schulterzucken unmöglich macht.
In dieser Unmittelbarkeit verschränkt der an der Berliner Volksbühne beheimatete Choreograph und Regisseur plakative Lautstärke, traumatische Bilder, poetische Erzählung und politische Metaphern zu einem argumentierenden Spektakel. In einer überdimensionalen Herrentoilette mit Observationsfenstern, in die man nur gebückt durch niedrige Öffnungen gelangt (Bühne: Penelope Wehrli), inszeniert Kresnik 30 Szenen über die Vorhölle „Schweiz“. Reinlich-keits-, Ordnungs-, Keuschheits- und Heimatterror, die Komponenten der Demütigung und Erniedrigung, die Fritz Zorn in ihrer krankmachenden Dimension so klar und haßerfüllt beschrieben hat, nimmt Kresnik als bildliche Masken, um damit die wahren Gesichter dahinter zu häuten.
Dabei folgt er Einzelaspekten, deren natürliche Zusammengehörigkeit er nicht chronologisch sondern assoziativ belegt. Bernhard Schütz als Mars taumelt so durch erzählende und symbolische Szenen, die mal das Niederhalten der freien Persönlichkeit durch krankes Reglement, mal den rasenden Widerspruch des Opfers, der die Mechanismen zu spät erkannt hat, thematisieren. Familie, Beruf, Armee auf der einen Seite, Tod, Isolation, Haß auf der anderen - es gibt nichts Wertvolles in Mars' Welt.
Die Bilder, die Kresnik hierfür findet, reichen von bitterbösen Satiren auf gesellschaftliche Institute wie beim Aufklärungsunterricht oder bei der Musterung, bis zu Momenten, die physisch schmerzen, wenn ein brachial hoher Ton und Videos von der Sezierung eines Geschwürs die Krebsdiagnose begleiten. Die Fülle der verwendeten Symbole weiß er immer wieder zu brechen, bevor sie zur Parole verkommen, und die Gewalt mäßigt er soweit, daß sie nicht zum Selbstzweck gerinnt.
Strukturiert werden die einzelnen Abschnitte durch Totentänze, deren Choreografie Kresnik gemeinsam mit dem Tänzer Ismael Ivo entwarf und deren bestürzende wie brillante Klarheit zu dem Besten gehört, was im Bereich Tanz in den letzten Jahren in Hamburg zu sehen war. Durch die magisch-brachiale Musik von Serge Weber, vorgetragen vom Contemporary Alphorn Orchestra, abgerundet, ist hier eine Produktion entstanden, die das bedrohliche Thema Krebs so ernst und schön behandelt, daß der Rezensent nur ganz boulevardblattmäßig empfehlen kann: Unbedingt ansehen!
Rainald Goetz -Katarakt
Als das Schauspielhaus ankündigte, es werde die Trilogie Festung von Rainald Goetz vollständig inszenieren, tippten sich viele professionelle Beobachter an den Kopf und waren sich sicher, daß das nicht gut gehen kann. Zu vertrackt und eigen schienen die drei Texte, zu ungeklärt der innere Zusammenhang, zu unpopulär der Stil des Autors. Seit Freitag abend ist das Projekt nun vollendet und zwar geglückt vollendet. Durch die Entscheidung, die drei Abschnitte von drei verschiedenen Regisseuren bearbeiten zu lassen (Anselm Weber, Wilfried Minks und jetzt Christof Nel), die alle ein glückliches Händchen bei der durchaus komplizierten Herausforderung bewiesen, gewinnt zwar nicht unbedingt die Homogenität – was wohl durchaus im Sinne des Autors sein dürfte –, dafür aber der Zuschauer an Perspektiven.
Nels Inszenierung des Monologs des „Alten“, sicherlich der „rundeste“ Teil der Trilogie, bleibt dann auch anders als seine Vorgänger ganz bei der Person. In einem karg-kalten, sich verengenden Raum von Kay Anthony schlendert Peter Brombacher als der „Alte“ im inneren Monolog gefangen zwischen Rotwein-Glas und Rose hin und her und reflektiert das gelebte und ertragene Leben. Dabei eröffnet er eineinhalb Stunden lang ein Denken, daß sich Rede und Gegenrede zu verschiedensten Komplexen bewußt macht und um eine Position ringt, ohne sich wirklich festlegen zu wollen.
Bedroht von Einsamkeit aber nicht bereit, verlogene Kompromisse ernsthaft in Betracht zu ziehen, dreht und wendet der Alte mal selbstironisch mal ernst die einzelnen Komplexe des Seins. Sehnsucht folgt auf Ekel, philosophisches Schleifendrehen auf trockene Einsichten, Assoziation auf Erzählung, Erinnerung auf Befürchtung.
Ohne jeden hysterischen Aufwand verdichten Regisseur und Schauspieler den Text gemessen zu einem Moment schonungsloser und komplexer Menschlichkeit, die heutiges Denken skizziert, ohne beispielhaft geraten zu wollen. Vielmehr bleibt immer klar: Rainald Goetz betrachtet sich aus zeitlicher Ferne selbst. Publikum und der anwesende Katarakt-Verfasser waren begeistert.
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