: Literarischer Roger Rabbit
■ In Reinhard Lettaus neuen Roman schneien kindlich Wuselwesen
Reinhard Lettau ist, was man auf Amerikanisch ein one trick pony nennt. Hervorgetan hat er sich und aus der bundesdeutschen Gegenwartsliteratur irgendwie nicht wegzudenken ist er geworden durch Buch für Buch eigentlich immer dieselbe kleine Prosa. Seine Texte scheinen aus den zwanziger Jahren zu kommen: jedenfalls aus einer Zeit vor der bräsigen Planierung unserer Literaturverhältnisse durch die Dampfwalzenkunst der Gruppe 47 und die dazugehörige Literaturkritik. Es ist Prosa in jenen „nur um ein weniges verrückten Wendungen, in denen es die Sprache den Gefühlen einen Augenblick lang erlaubt, ganz auszulaufen“ (W. G. Sebald) – Sachen, die wohl nicht zufällig fast alle weit weg von hier, in Amerika, entstanden sind.
Es war die Ungerührtheit jener bei Lettau sinnlos im Nebel umherlaufenden Militärs, die stoische Subjektlosigkeit seiner miamischen Frühstücksdiktatoren, des Herrn Manig, überhaupt all der feierlich und wie aus anderen historischen Dimensionen ein- und auftretenden Herren, Hausherren, Einwanderungsbeamten und sonstigen Autoritätsinhaber, kurz: Es war die Tatsache, daß ihre Figuren keine Biographie hatten, die Lettaus Texte zu dem auf deutsch so seltenen Fall komischer Hochliteratur machten.
Von diesem antibiographischen Prinzip geht Lettaus neue Arbeit ab. Folgerichtig trägt das Buch – ein einmaliger Fall in Lettaus Gesamtwerk – die Gattungsbezeichnung „Roman“. Zum ersten Mal ist jetzt ausführlich von Lettau selbst die Rede, von seinem amerikanischen Leben, seinen Hunden, seiner Rückkehr nach Deutschland, seiner Lebensgefährtin – und eben von jenen titelgebenden Gästen, vor denen der als Lettau identifizierbare Erzähler flieht.
Sie freilich gehören immer noch zu jenen gravitätisch-fremden, kindlich in die Welt hereingeschneiten Wuselwesen aus einem Paralleluniversum vor oder neben unserer Zeit, deren Auftritt alle bisherigen Bücher Lettaus zu jüngeren und notwendigerweise epigonalen, aber nicht im geringsten verächtlichen Vettern derjenigen Kafkas und Robert Walsers gemacht hat. Diese Wesen gleichen in ihrer den Leser als zugleich komisch und kindlich rührenden Exterritorialität – um einen anderen Fall verkannter literarischer Komik aufzuführen – den Allegorien in Goethes „Faust II“.
Dem zur Figur gewordenen Erzähler des neuen Buchs jedoch scheinen sie auf die Nerven zu gehen: „Beim Anblick der Gäste, wenn sie vor der Türe erscheinen, braucht man Überraschungen nicht zu fürchten, man lud sie ja ein, kannte sie also. Dennoch ist es immer wieder erstaunlich, zu beobachten, wie schlecht sie insgesamt aussehen. Zwar hat man sich dazu überredet, von Menschen, bei denen die Natur sich Freiheiten erlaubte, die ihnen Nachteile einbrachten, an anderer Stelle entschädigt zu werden, aber bei meinen Gästen läßt nichts, was sie vortragen, ihren Anblick vergessen. Solche Hemden streifen Religionsstifter über, Violinisten. Wer sich so kleidet, hat sich beurlaubt von den Kümmernissen der Welt.“
Der Roman ist im Achtzehnten Jahrhundert zur Leitgattung der Moderne geworden, weil sich in ihm nicht nur die Unübersichtlichkeit der modernen Zeiten aussprechen kann, sondern auch die subjektive Befindlichkeit des in seiner biographischen Einmaligkeit vereinsamten Individuums. Lettaus „Gäste“ jedoch sind keine Subjekte. Sie stammen aus einem epischen Weltzustand. „Nicht Leidlosigkeit und Gesichertheit des Seins kleiden hier Menschen und Taten in fröhlich-strenge Umrisse, sondern diese Angemessenheit der Taten an die inneren Aufforderungen der Seele: an Größe, an Entfaltung, an Ganzheit. Wenn die Seele noch keinen Abgrund in sich kennt, der sie zum Absturz locken oder auf wegelose Höhen treiben könnte, wenn die Gottheit, die die Welt verwaltet und die unbekannten und ungerechten Gaben des Geschickes austeilt, unverstanden aber bekannt und nahe den Menschen gegenübersteht wie der Vater dem kleinen Kinde, dann ist jede Tat nur ein gutsitzendes Gewand der Seele.“ (Georg von Lukacs).
Es ist nicht zu verwundern, daß Lettaus biographischer Roman- Lettau vor so heldisch tätigen Gästen Reißaus nimmt. In ihrer Ungebrochenheit halten sie sich freilich an der bürgerlichen Wohnungseinrichtung schadlos. Das repräsentative Dekor wird als Fassade erkannt und bricht zusammen. „Ein wiederkehrendes Erlebnis, das mich im Umgang mit Gästen ermüdet, ist die Überprüfung der Gegenstände des Hauses auf ihre Echtheit: Klangprobe am Kristall, Behauchung des Spiegels, Entenbeklopfung. Nämlich nach Einnahme eines ordentlichen Mahles deutete aus seinem Sessel einer meiner Gäste nach oben auf die Ente, die auf dem Kaminsims steht, in der ich Notizen verwahre, und fragte, ob es eine wirkliche Ente sei? Nachbildung einer Ente in natürlicher Größe, die Antwort. Nein, ob sie echt sei? Griff, ohne sie zu erreichen, kurzatmig zur Ente. Während ringsum die Gäste verstummten, gelang es dem Mann, im kecken Sprung die Ente zu fangen. Nebeneinander im Sessel beklopfte das Paar die Ente auf ihre Richtigkeit hin. Offenbar verhält es sich so, daß diese Tiere, um Anerkennung zu finden, aus einem bestimmten Holz gefertigt sein müssen.“
Die digitale Datenverarbeitung macht es möglich, Schauspieler in Trickfilmen auftreten zu lassen. In Lettaus neuem Roman hat sich der Autor autobiographisch in einer Weise unter seine Figuren versetzt, die an solche Kunstgriffe erinnert. Vielleicht wollten sich Lettau und der Hanser Verlag durch die Einordnung der (übrigens zu einem Großteil schon veröffentlichten) Texte von „Flucht vor Gästen“ unter die repräsentative Gattungsfiktion des Romans ein bürgerlich- heroisches Gedenkmonument zu Lettaus 65. Geburtstag errichten, der im September zu begehen war. Es ist eine Art literarischer „Roger Rabbit“-Film dabei herausgekommen, und durch nichts hätte sich Reinhard Lettau schöner und angemessener ehren können. Stephan Wackwitz
Reinhard Lettau: „Flucht vor Gästen. Roman“ Carl Hanser Verlag, München. 104 Seiten, gebunden, 28 Mark.
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