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Die Ideen sind in den Dingen

■ Dichterleben: William Carlos Williams' „Autobiographie“

Wenn moderne Ärzte schreiben, wird es eklig: Die poetischen Pathologien Gottfried Benns, Bücher wie Célines „Reise ans Ende der Nacht“ und natürlich Rainald Goetz' „Irre“ leben davon, daß sie medizinische Praxis mehr oder weniger kunstvoll in literarische Erfahrung verwandeln. „Jeder drei Näpfe voll: von Hirn bis Hoden“, das ist alles, was Benn übrigläßt von der sog. Krone der Schöpfung.

Fernab von jeglichem Verwesungskitsch schrieb ein anderer Arzt, der amerikanische Lyriker William Carlos Williams (1883-1963). Über 40 Jahre nach dem Original ist jetzt endlich seine Autobiographie auf deutsch erschienen, die Lebensbeschreibung eines bescheidenen und freundlichen Mannes von der Ostküste der Vereinigten Staaten. Der Vater aus England, die Mutter aus Puerto Rico, eine glückliche, weiße und sehr amerikanische Kindheit vor hundert Jahren: Sport, Natur, Angeln, erste Liebe am Seeufer, dann erste Gedichte und der frühe Entschluß, Dichter zu werden. Das heißt, Arzt zu werden: „Denn ich hatte nicht die Absicht, für die Kunst zu sterben, ihr als Wanzenfutter zu dienen, oder irgendwen um Hilfe zu bitten.“ So klar und einfach geht es weiter: Williams studiert, arbeitet in New Yorker Krankenhäusern, eröffnet seine Praxis in seinem Geburtsort Rutherford, New Jersey. Ein paar Mal reist er nach Europa, besucht England, Deutschland, die Schweiz, und treibt sich zusammen mit seiner Frau Flossie auch „im Paris der expatriierten Künstler“ rum. Sehr spät dann Lesungen an amerikanischen Universitäten, mehr Nachruhm als Ruhm. Ansonsten: ein Leben an der Peripherie, im verschlafenen Rutherford, N.J., ein paar Meilen vor New York, wo er Kinder behandelt und seine Gedichte schreibt, von denen man sagt, daß erst mit ihnen Nordamerika zu einer eigenen poetischen Sprache fand.

Williams war vor allem Lyriker, und so erzählt er sein Leben als eine dichte Folge von Miniaturen, gefrorenen Momenten, Portraits. Alles reiht sich aneinander, manches wichtig, anderes nicht, aber wer will das schon entscheiden? In der Erinnerung steht der armselige Händler, der die Familie dreißig Jahre lang mit Fisch versorgt, gleichberechtigt neben all den „großen“ Namen aus der Welt der Kunst. Williams beschreibt ein Leben im kleinen. Das Detail bestimmt die Welt des Arztes und die Arbeit des Dichters; Dichtung und Diagnose bilden „zwei Teile eines Ganzen“. Seine Patienten sind die kleinen Leute der Provinz, ungebildet, arm, erfolglos. Im Umgang mit ihnen entdeckt er seine eigene Sprache der Poesie. „Das Mädchen, das atemlos in meine Praxis stolpert, in ihrer Unterwäsche einen noch atmenden Säugling, und mich bittet, ihre Mutter aus dem Zimmer zu weisen; der Mann, der den Verstand verloren hat – sie alle sagen letzten Endes das Gleiche. Und dann schiebt sich eine neue Bedeutung dazwischen. Denn unterhalb der Sprache, die wir unser Leben lang vernommen haben, bietet sich uns eine neue, eine schwerer zu verstehende Sprache an, die allen Dialektiken zugrunde liegt. Man nennt das Poesie. Es ist die letzte Phase.“ Erst wenn er zuhört und schreibt, arbeitet der Arzt wirklich.

Freundlich notiert Williams seine kleinen Schnitte durch die Wirklichkeit, seine glimpses. Alles wirkt klar wie im Traum oder wie aus großer Ferne. Eine Begegnung

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Fortsetzung

in Paris: „In der Nähe des Arc de Triomphe fährt Joyce in einem Taxi an uns vorbei. Nie werde ich sein Gesicht vergessen, als er uns, die wir in einem ähnlichen Fahrzeug saßen, von seinem Taxi aus erkannte. Es war ein schuldbewußtes Gesicht, halb überrascht, halb peinlich berührt, er sah drein wie jemand, den man am Schauplatz eines Verbrechens ertappt. Ich bin nie ganz schlau daraus geworden.“ Auch andere Sterne der Moderne trifft Williams: Cocteau, Man Ray, Sylvia Beach, Djuna Barnes, Gisèle Freund, Brancusi, Léger und immer wieder natürlich seinen Jugendfreund Ezra Pound. Aber so richtig warm wird W.C.W. nicht in den Kreisen der Bohèmiens und Habitués, von denen manche ganz für die Kunst leben und romantisch hungern. Viele sehen auf ihn herab, und immer bleibt er der dichtende Doc aus der doppelten Provinz, Rutherford, N.J., U.S.A.

Und dort schreibt er: Romane und Kurzgeschichten, Dramen, Essays und eben die Gedichte in der Sprache der einfachen Leute, seiner Klienten und Nachbarn. Nach der Arbeit oder zwischen zwei Patienten hämmert er seine kurzen Zeilen in die Tasten, revolutioniert die Dichtung, findet den freien rhythmischen Vers für die amerikanische Literatur. Eine Poesie des Details, die der Bildungsballast der Alten Welt nicht schert. Longins „Über das Erhabene“, das er auf Pounds Empfehlung hin liest, langweilt ihn. Als Theoretiker bleibt er immer dilletierend. Die Arbeit ist wie die Kunst ist wie die Liebe: „In love/ dear love, my love/ detail is all.“ Und immer wieder, in Gedichten und in der Autobiographie, stößt man auf sein poetisches Credo: „No ideas but in things.“ Menschen und Steine versöhnen, „to reconcile the people and the stones“, wäre das Programm seiner Gedichte, wenn sie eines hätten. Nichts als Worte und doch viel mehr, lakonisch, lebendig. In seinem Gedicht „A Sort of a Song“ heißt es: Let „the writing/ be of words, slow and quick, sharp/ to strike, quiet to wait, sleepless.“ („Schreib mit Worten/ ruhig, schnell, hart/ im Schlagen, still im Warten,/ schlaflos.“)

Persönliche Krisen deutet Williams nur an, vielleicht gab es wenige. W.C.W. hat wohl wirklich gerne gelebt und scheint oft einfach guter Dinge gewesen zu sein; auch das so ganz und gar nicht europäisch. „Unschuld vergeht nicht“, schreibt er in seinem ersten Gedicht; anscheinend hat er an seine eigene geglaubt. Seine Depressionen, von denen erst seine Witwe berichtete, hat er verschwiegen, aber solche bewußten Lücken gehören zu seinem Stil wie das ganz normale Vergessen. So bleibt Platz für ein wenig Zerstreutheit, ab und an ein paar Männerphantasien über Krankenschwestern und Szenemusen, vor allem aber für seine eigenartigen und schönen glimpses. Da steht das Große neben dem Kleinen, gleich viel wert ein Strauß Blumen, ein Gewitter, das Gespräch mit einem Mädchen in Leipzig, das traurige Scheitern eines vielversprechenden Autors. „In love/ dear love, my love/ detail is all.“ So steht das alles einfach da auf dem Papier, ohne bedeuten zu wollen, lakonisch, genau, freundlich wie der Oktober und in einem gelben Licht. Hans-Joachim Neubauer

William Carlos Williams: „Die Autobiographie“. Aus dem Amerikanischen von Werner Schmitz. Ausgewählte Werke in Einzelausgaben. Hrsg. von Joachim Sartorius, Carl Hanser Verlag, München. 525 Seiten, gebunden, 58 Mark. Dort sind auch die Gedichte erschienen: „Der harte Kern der Schönheit. Ausgewählte Gedichte“. Amerikanisch und Deutsch, 400 Seiten, gebunden, 48 Mark.

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