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Die neueste wichtige Fehlprognose

■ Herbstgutachten: Wirtschaft wächst 1995 um drei Prozent – doch die Zahl neuer Arbeitsplätze nimmt nur wenig zu

Berlin (taz) – Sie sollen auf Fehlentwicklungen hinweisen und die Bundesregierung in ihrer Wirtschaftspolitik beraten: jene die Fünf Weisen genannten Professoren Herbert Hax, Juergen Donges, Wolfgang Franz, Rolf Peffekoven und Horst Siebert. Jedes Jahr, wenn der November so richtig trüb geworden ist, legen sie ihr Herbstgutachten vor. Gestern bot ihre Wirtschaftsprognose das Kontrastprogramm zum Wetterbericht. Gleich um drei Prozent soll das Bruttoinlandsprodukt, also sämtliche Wirtschaftsleistungen der Deutschen, 1995 wachsen. Der „Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung“, wie das Gremium offiziell heißt, wertet dies als „verhaltenen Aufschwung“.

Dabei nehmen das reiche Westdeutschland (2,5 Prozent) und das ärmere Ostdeutschland (9 Prozent) unterschiedlich zu. Und was da wächst, sind auch im nächsten Jahr der Export und verstärkt die Inlandsinvestitionen.

Viel zu langsam jedoch wächst nach Meinung der Fünf Weisen die Zahl der Arbeitsplätze. Trotz der wirtschaftlichen Erholung werde die Zahl der Arbeitslosen im nächsten Jahr nur um 90.000 auf 3,62 Millionen zurückgehen, befürchten die Professoren und nennen das „besorgniserregend“. Die Inflation bleibt nach der Prognose ungefähr so, wie sie ist: bei 2,5 Prozent im Westen und 3 Prozent im Osten Deutschlands.

So richtig prassen können die Massen auch 1995 nicht. Zwar vermuten die Fünf Weisen, daß die Gewerkschaften von den steigenden Unternehmensgewinnen reale Einkommenssteigerungen herausverhandeln können – doch letztlich wird das Mehr nicht der Einzelhandel, sondern der Staat über Steuererhöhungen abkassieren.

Noch schwieriger als in den Vorjahren machen es darum die Sachverständigen dem Kanzler, das Gutachten als Bestätigung seiner Politik zu verkaufen. Sie kritisieren vor allem die Finanzpolitik: „Es fehlt eine klare Perspektive.“ Die öffentliche Verschuldung, aber auch die Abgabenquote müßten sinken. Die Wohnungspolitik müsse reformiert, das Steuersystem vereinfacht und die Sozialsysteme „neu orientiert“ werden.

Ob die Wirtschaftsentwicklung wirklich so verlaufen wird, wie die Fünf Weisen verheißen, ist allerdings fraglich. Wirtschaftsexperten, die nicht dem erlauchten Club angehören, bespötteln das Herbstgutachten als „wichtigste Fehlprognose des Jahres“. So rechneten die „Weisen“ voriges Jahr mit Nullwachstum für dieses Jahr. Für 1993, das Jahr mit zwei Prozent Minuswachstum, sagten sie Nullwachstum voraus. Für die Boomjahre 1988 bis 1991 lagen ihre Prognosen ständig zu niedrig, für 1992 dann zu hoch. Kritiker bemängeln denn auch, daß das Gremium grundsätzlich davon ausgeht, daß die Wirtschaft gleichmäßig wächst, obwohl Wachstum faktisch überall in Konjunkturzyklen stattfindet. Donata Riedel

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