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Die Hippies von El Bolsón

Am Fuße der Anden leben die Aussteiger Argentiniens. Unter der Militärdiktatur zogen immer mehr Akademiker in die Provinz, weil dort das System nicht so hart zugreifen konnte. Viele von ihnen leben vom Kunsthandwerk  ■ Von Ekkehard Voigt

Elba hat schlechte Laune. Sie hat heute kaum Schmuck verkaufen können auf der Feria Artesanal. Dabei braucht sie dringend Geld. Am nächsten Morgen wird sie den Bus an die Atlantikküste nehmen. Im schicken Villa Gesell, nicht weit von Mar del Plata, der argentinischen Côte d'Azur, will sie sich eine neue Existenz aufbauen. Hier in El Bolsón, in der patagonischen Provinz Rio Negro, sieht sie für sich keine Zukunft mehr.

Zweimal in der Woche entsteht in dem verschlafenen Nest am Fuße der Anden so etwas wie Geschäftigkeit. Dann rollen die Busse aus San Carlos de Bariloche an und spucken liquide Touristen aus, die ihre Pesos auf dem brühmten Kunsthandwerkermarkt von El Bolsón ausgeben wollen. Auf den Tischen warten Mate-Kalebassen, Ledertaschen, Schmuck und Tuch in jeder tragbaren Form auf Käufer. Die Arbeiten zeugen von bemerkenswerter Phantasie und Kunstfertigkeit. Sie sind geronnene Träume von einem anderen Leben und dienen dazu, zum Lebensunterhalt der Großstadtflüchtlinge beizutragen.

El Bolsón wurde in den späten Jahren der argentinischen Militärdiktatur, also zu Beginn der 80er Jahre, zu einem heimlichen Mekka der Großstadtflüchtlinge. Und davon gab es viele. In einer Generation, in der jeder ein Opfer der Unterdrückung persönlich kennt oder selbst eines war, hatten viele einen Grund, das institutionalisierte Leben in Buenos Aires zu fliehen. Viele AkademikerInnen, vor allem aus den pädagogischen Berufen, zogen in die Provinz, wo das System nicht so hart zugreifen konnte. Sie verzichteten auf bürgerliche Laufbahnen und säten ihre Sehnsüchte in die Gemüsegärten.

Das Leben auf dem Campo, ohne fließendes Wasser, ohne Strom oder welchem aus lärmenden Dieselgeneratoren, mit dem manchmal gar messerbewaffneten Kleinkrieg mit den Mapuche- Nachbarn, war Elbas Sache nicht. Sie trennte sich von dem Erzeuger ihrer zwei Söhne und zog ins Dorf. Seitdem lebt sie mehr recht als schlecht von ihren Schmuckarbeiten.

Oscar schält aus dem Schmalztopf ein kilogroßes Stück und schleudert es auf den Rasen vor seinem Wohnwagen. Die fünf Welpen müssen zu fressen haben in den zwei Tagen, die er auf Tour gehen wird. Es hängen ein paar schüchterne Wolken über dem Piltriquitrón, aber es wird keinen Regen geben. Oscar kennt die Wolken, die Berge und die Bäume. Seit zehn Jahren lebt er hier als Berg- und Reitführer. Seine zwei Pferde würde er nicht ohne seine Begleitung verleihen.

Hoch zum Hielo Azul, auf 2.400 Meter – das sind zwei Tage, einer im Sattel, am anderen zu Fuß durch Lenguawälder, über Geröllfelder und Gletscher auf den Gipfel. Ohne Oscar wäre das nicht zu schaffen – so etwas wie einen ausgezeichneten Wanderweg gibt es nicht. Das hält die Massen fern. Oberhalb der letzten (der einzigen) Berghütte sind selten Wanderer zu sehen.

Vom Gipfel aus sieht man den drohenden Monte Tronador bei Bariloche, die chilenischen Vulkane im Nordosten und im Süden die legendären Tres Picos. So wie Oscars Augen glänzen, wird er niemals El Bolsón verlassen. Auch er ist Lehrer, ein ganzes Jahr hielt es ihn nach seinem Studium in Buenos Aires. Er fuhr nach Patagonien, kaufte sich für je 100 Dollar zwei Pferde und lernte die Geschichten, die die Überreste der Mapuche hier über die Sträucher, die Bäume und die Gräser erzählen.

Die Rotznase des pubertierenden Manu ist nicht dazu geeignet, die Laune Elbas zu verbessern. Sie hätte eigentlich noch zu waschen und zu packen, ihre Abwesenheit zu organisieren. Statt dessen muß sie noch den zehnjährigen León trösten, dem Manu eine brüderliche Tracht Prügel verpaßt hat. Die Jungen wissen nicht so recht, etwas mit der langen Ferienzeit anzufangen, die heute beginnt. Auch sonst sind sie nicht gerade überfordert vom Unterricht. Elba beklagt die schlechte Schulbildung ihrer Kinder. Wissen wäre ein Weg hier wieder wegzukommen.

Heute abend steigt eine große Party: Fiesta del Lúpulo, Hopfenfest. Angesagt haben sich „Vox Dei“, eine argentinische Rocklegende aus den Zeiten, als man anfing, auf der Bühne Gitarren zu zertrümmern und sich alle frei liebten. Elba lacht jetzt über die Orgien der alten Zeiten, draußen, in den Hütten im Campo. Schon bevor Aids die ersten Toten in Patagonien zählte, hatte es damit aufgehört. Die Libido ist durch die kleine Zahl der möglichen Liebhaber limitiert. Der Vermehrungstrieb richtete sich allmählich wieder auf die Gemüsebeete.

Zum Konzert der Vox Dei strömen Scharen von Mochileros (Rucksackreisende) in das Tal. Sie campen wild an den Ufern des Lago Puelo, etwa 20 Kilometer von El Bolsón entfernt. Vor den Zelten brennen kleine Feuer. Es wird Wasser für Mate erhitzt. Dieser Gauchotrank aus einer kollektiven, faustgroßen Kalebasse ist Pusher, Tranquilizer und, durch die Art, wie er nach ein paar Schlucken durch den Messinghalm weitergereicht wird, Friedenspfeife in einem.

Hier sind lange Locken noch ein Signum für Rebellion. An den strengen Privatschulen Argentiniens werden Uniform und Kurzhaar getragen. Nach dem Abitur aber wird erstmal der enge Rahmen der Familie geflohen. Da ist eine Tour ins Hippie-Mekka gerade das Richtige. Joints werden herumgereicht, die Gitarre mit dem ewigen Blues-Schema geschunden, und alle sind sehr gut drauf. Es ist wie im Museum.

Aus dem Südufer des Lago Puelo steigt imposant das Massiv der Tres Picos – „drei Spitzen“. Vier Tage dauert eine Besteigung, der schwierige Abstieg hat schon manche in die Ewigkeit geführt. El Nilo, eine Bolsóner Legende, kam aus Córdoba und wagte mit einigen Freunden die Tour. Auf dem Gipfel fanden sie unter einem Stein die Beschreibung des komplizierten Rückwegs. Es galt dabei, die dicht gewachsenen Bambuswälder zu umlaufen, die ein Durchkommen unmöglich machen. El Nilos Gruppe kam gar nicht mehr bis zur Baumgrenze. Ein Schneebrett löste sich und begrub sie unter unnachgiebigem Eis. El Nilo konnte sich als einziger befreien, suchte Stunden verzweifelt nach Armen, Beinen. Sonst hatte niemand überlebt. El Nilo zog nach El Bolsón. Er wollte auch in Patagonien sterben.

Elba packt ihre Sachen, zählt ihr Geld und flucht. Sie wird nur eine Woche an der Atlantikküste bleiben können – wenig Zeit für eine Existenzgründung. Argentinien ist sehr teuer. Ein Liter Milch kostet im Supermarkt 2 Pesos, etwa 3,50 Mark; eine 60-Gramm-Tafel Schokolade 4 Mark; eine Zeitung 2,50 Mark. Einzig Fleisch und Wein sind billiger (und besser) als in Europa. Die Regierung Menem verfolgt eine rigide Geldpolitik à la Maggie Thatcher. Die maroden Staatsbetriebe werden privatisiert. Die Käufer sind aus dem Ausland und schöpfen die Gewinne ab. Im Lande entbrennt ein harter Kampf um das knappe Geld – die dramatischsten Verlierer sind die RentnerInnen. Mit knapp 400 Mark müssen sie bei diesen Preisen über die Runden kommen. Lehrende bekommen etwa 600 Pesos als monatliches Salär, ein Industriearbeiter kostet mit 3 Pesos in der Stunde etwa ein Achtel seines deutschen Kollegen.

In El Bolsón wird die Geldknappheit mit den Früchten des eigenen Gartens etwas kompensiert. Die wenigen Restaurants leben vor allem von Touristen. Die Einheimischen belassen es im Pub bei ein, zwei Drinks und amüsieren sich trotzdem.

Das weiß auch Rudolf Wendler, ein immigrierter Deutscher in Batikhosen, der in Konkurrenz zum Konzert an diesem Abend einen neuen Pub eröffnet. Bis zur letzten Minute wurde noch geschliffen, gekehrt und geputzt. Mit zwei Stunden Verspätung wird eröffnet – das Design scheint direkt aus der Oranienburger Straße in Berlin gebeamt. Auch wenn der Umsatz bescheiden bleibt – der Pub ist proppenvoll. Gebannt starren die Alt- Hippies auf die ebenfalls ergrauten Heroen einer hoffnungsvolleren Zeit: Auf dem Riesen-Videobildschirm laufen Bilder vom Pink- Floyd-Auftritt an der gefallenen Mauer in Berlin.

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