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Noch ziert sich Kandidat Delors

Frankreichs SozialistInnen haben sich für ihren Präsidentschaftskandidaten entschieden / Er heißt Jacques Delors und entspricht so gar nicht dem Wunschbild eines Sozialisten  ■ Aus Liévin Dorothea Hahn

Sozialist ist er nicht, allenfalls Sozialdemokrat. Linker Nationalist ist er auch nicht, vielmehr überzeugter Europäer. Antiklerikal ist er erst recht nicht, statt dessen gläubiger Katholik. Trotzdem ist Jacques Delors der Wunschkandidat der französischen SozialistInnen für das Amt des Staatspräsidenten, das im nächsten Mai neu besetzt wird. Bei ihrem Parteitag in der nordfranzösischen Industriestadt Liévin sagte der mit 87 Prozent der Stimmen wiedergewählte Generalsekretär Henri Emmanuelli an die Adresse Delors: „Eine Kandidatur ist deine Pflicht.“

Der Angesprochene, Noch-Präsident der Kommission der Europäischen Union, glänzte durch Abwesenheit. Nicht einmal ein Grußwort hatte er den Delegierten geschickt. Bis vor kurzem weigerte sich Delors sogar prinzipiell, das Thema der Präsidentschaftswahl in Frankreich zu behandeln. Dann landete er Anfang November einen Überraschungscoup mit der Buchveröffentlichung einer Serie von Interviews (1) – Titel: „Die Einheit eines Mannes“.

Überhaupt nicht bescheiden denkt der 69jährige darin über seine 50 Jahre in der französischen Gewerkschaftsbewegung, in der Regierung – er war von 1981 bis 1983 Haushaltsminister – und an der Spitze der EG nach. Zwar ist nicht die Rede von einer Präsidentschaftskandidatur, aber Delors entwirft Vorschläge zu Wirtschaftskrise und Arbeitslosigkeit, die ausdrücklich für Frankreich gedacht sind.

Die Franzosen kennen die Praxis des Sich-Zierens von den fünf vorausgegangenen Präsidentschaftswahlen in der V. Republik. Man hüllt sich in Schweigen, denkt nach, sammelt Unterstützer, schreibt ein Buch, gibt Interviews, beobachtet Umfrageergebnisse. Delors unterscheidet sich darin nicht von seinen Vorgängern. Selbst sein öffentlich abgelegtes Versprechen, er werde bis Weihnachten absagen, falls er nicht kandidiere, ist nicht ungewöhnlich.

Trotz der deutlichen Worte von Parteichef Emmanuelli haben viele SozialistInnen Bauchschmerzen mit ihrem Wunschkandidaten. „Natürlich bin ich für eine Kandidatur von Delors“, spricht eine 22jährige Delegierte aus, was viele denken, „er ist doch der einzige, mit dem wir siegen könnten.“ Als sozialistischen Politiker erlebt hat die junge Frau den Kandidaten freilich noch nie. Sie gehört zur „Generation Mitterrand“ – sie war ein Kind, als Mitterrand vor 13 Jahren gewählt wurde, und interessierte sich noch nicht für Politik, als Delors drei Jahre später nach Brüssel ging, wo seine eigentliche Karriere begann.

Allen Delegierten ist klar, daß Delors nicht für die Vorschläge von Emmanuelli gestimmt hätte, die auf dem Parteitag von 92 Prozent der Delegierten angenommen wurden. Delors ist zwar auch für die 35-Stunden-Woche, aber eben nicht bei vollem Lohnausgleich; er ist für das Recht auf Asyl, aber nicht grundsätzlich gegen Abschiebungen. Und er hat einen Führungsstil, eine politische Unabhängigkeit, die ihn der Partei verdächtig machen. Schon einmal – mit François Mitterrand – haben die SozialistInnen die bittere Erfahrung gemacht, daß sie zwar den Präsidenten stellten, dann aber doch nichts zu sagen hatten. Dieses Mißtrauen, gepaart mit den Bedenken der KlassenkämpferInnen, die der PS geblieben sind, könnte dazu führen, daß die Partei eine Kandidatur Delors unterstützt, ohne sie zu ihrer eigenen zu machen.

Für ihren Parteitag haben die SozialistInnen einen symbolträchtigen Schauplatz gewählt. Liévin liegt mitten in Frankreichs einstigem Kohlerevier. Zahlreiche stillgelege Fördertürme und Dutzende Meter hohe schwarze Abraumhalden bestimmen das Bild der 34.000-EinwohnerInnen-Stadt. In dieser Gegend – in einer Kneipe in Lille – wurde erstmals die Internationale gesungen, gründete sich 1905 die erste sozialistische Partei Frankreichs, und leisteten die ArbeiterInnen hartnäckigen Widerstand gegen die Nazis.

Die Sozialistische Partei, die in der jüngsten Vergangenheit eine Niederlage nach der anderen einsteckte, die bei den Parlamentswahlen im vergangenen Jahr nur noch 17 und bei den Europawahlen im Juni sogar nur 14,5 Prozent der Stimmen bekam, sie stimmte sich in Liévin auf die Möglichkeit eines Sieges ein. Der Wunschkandidat – da sind sich alle sicher – ist gut. Und das Chaos bei den großen konservativen Parteien, die ihre internen Konkurrenzkämpfe völlig außer Kontrolle verloren haben, ist auch gut – zumindest für die SozialistInnen.

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