: „Kultur ist ein flüchtiges Ding“
Gesichter der Großstadt: Der Dichter, Künstler und ehemalige Psychiater Jörg Janzer ist Verkünder der „klarsichtigen Verwirrtheit“ ■ Von Noäl Rademacher
Auf einem Hinterhof in der Rosenthaler Straße schwingt ein Mann den Besen, der außerdem Bilder malt, Text-Musik-Performances betreibt und Romane schreibt – oder „Romanoide“, wie der Autor sie selbst bezeichnet. „Die Welt ist so lustig, so schön oder so schrecklich – warum sollte man sich auf eine Sache festlegen und daran festhalten, bis man stirbt?“ wundert sich Jörg Janzer und lacht, daß der Blick frei wird auf ein Gebiß, das aussieht, als könne es keinem Salatblatt mehr etwas zuleide tun. Dieser quicklebendige Mann hat niemals 55 Jahre auf dem Buckel! Müßte er allerdings, glaubt man seinem Personalausweis: geboren 1939 in Freiburg.
Sein erstes Buch, „Fleischesfleisch“, begann er Anfang der achtziger Jahre zu schreiben, um eine Lebenskrise zu überwinden. Teils autobiographisch, teils fiktiv erzählt der Autor von der Wanderung über die Vogesen, die er gemeinsam mit der Hündin Hannibal unternahm, vorbei am ehemaligen KZ Stutthof.
Martin Walser, dem er das Manuskript des Buches zusandte, war auf Anhieb so begeistert davon, daß er es ohne das Wissen des Autors direkt zum Suhrkamp-Verlag schleppte. Jörg Janzer weigerte sich jedoch, die typographischen Vorgaben seines Lektors zu akzeptieren, und gibt seitdem seine Bücher selbst heraus: jedes Exemplar ist handkopiert und selbstgebunden.
„Bei mir funktioniert der Rhythmus des Textes über die Optik, die relative Auflösung muß in der Typographie sichtbar sein“, erklärt Janzer dem Leser das Chaos des Schriftbildes. „Fleischesfleisch“ schrieb er „auf einer Neckermann-Reiseschreibmaschine unter teilweisem Verlust des Buchstaben F, der somit ausfiel oder teilweise durch die 1 symbolisch ersetzt wurde“.
Die autobiographische Hauptfigur des Romans, Alexander Mens, durchforstet in ironischen inneren Monologen die Abgründe der eigenen Seele. Seine Selbstdiagnose lautet „klarsichtige Verwirrtheit“. Der eifrige Antonin-Artaud-Leser Janzer hält dies für das positive Gegenstück zu einem Normalzustand, den er als „funktionale Verblödung bei formal intakter Intelligenz“ bezeichnet.
Er selbst studierte in den sechziger Jahren in Freiburg und Heidelberg Medizin. Aus seiner Stellung als Facharzt für Neurologie und Psychiatrie in Saarbrücken wurde er 1976 mit der Begründung „Herr Dr. Janzer ist eine Gefahr für die Patienten“ entlassen.
Ganze sechs Wochen später wurde er auf wundersame Weise trotz (oder gerade wegen) der vorherigen Entlassung – „das spricht alles für Sie“ – zum Leitenden Arzt einer Fachklinik in der Eifel ernannt. Im Jahr darauf hing er seinen Beruf jedoch endgültig an den Nagel: „Ich fühlte mich kranker als meine Patienten.“ Fortan versuchte Janzer, im Leben wie in der Kunst keine Kompromisse mehr zu machen.
„Was wir unter Kultur im Sinne humanistischer Ideale verstehen, ist ein flüchtiges Ding, das man Tag für Tag mit der eigenen, alltäglichen Wirklichkeit in Übereinstimmung bringen muß“, schrieb Janzer 1993 in einem Essay über das Schweigen der Intellektuellen angesichts des Bosnien-Krieges.
Von dieser anspruchsvollen Lebensmaxime zeugt sein weiterer Lebensweg: In Freiburg ging er unter die Hausbesetzer und verdiente acht Jahre lang sein Geld mit der Reparatur von Sperrmüll-Fahrrädern. Die Räumung seines Hauses im Juni 1989 trieb ihn nach Berlin, gerade rechtzeitig, wie sich herausstellte, um den Fall der Mauer mitzuerleben.
Die ersten Monate schlief er in seinem Auto, und der spartanische Komfort seiner jetzigen Dachwohnung muß wohl als eine Art Reminiszenz an seine Freiburger Fahrradwerkstatt gedeutet werden: Meine Handwärme muß dafür herhalten, daß der Apfelsaft im Glas keine Kristalle schlägt, so bitterkalt ist es dort. „Zuviel Geborgenheit verführt zum Zurücklehnen“, sagt Janzer.
In Berlin wurden seine Feder- und Kreidezeichnungen in verschiedenen Galerien ausgestellt – zuletzt im „Weißen Elephant“ im Scheunenviertel. 1992 erregte er Aufsehen mit der Kunstaktion „Salman-Rushdie-Straße“, bei der er zusammen mit André Brie 15 Straßenabschnitte im Bezirk Mitte umbenannte. Kürzlich trat er neben Blixa Bargeld und John Zorn beim „Music and Poetry“-Festival im Tacheles mit eigener Text-Musik-Performance auf.
Manchmal leidet Jörg Janzer darunter, daß man ihn nicht ernst nimmt, nur weil er mit seiner Kunst nicht hausieren geht. Die Leute aus der Lettre-Redaktion, die ein Stockwerk unter ihm residieren, würden ihn beispielsweise für den „Outcast vom Dienst“ halten, nur weil er regelmäßig den Hof fegt. Jetzt schenken sie ihm zum Dank ab und zu eine Lettre-Ausgabe: „Sie haben anscheinend mitbekommen, daß ich lesen kann.“
Am 9. Dezember liest Jörg Janzer aus seinem neuen Buch „Von der Todeskunst des Lächelns im Gehen“ im Kabinett, Glogauer Straße 17, Kreuzberg
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