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Im Land der glücklichen Menschen

Ungeniert sentimental hält der Borussen-Präsident Niebaum das Dortmunder UEFA-Achtelfinal-3:1 gegen La Coruña für ein Spiel, „über das man noch in Jahren sprechen wird“  ■ Aus Dortmund Katrin Weber-Klüver

Willkommen im Reich der glücklichen Menschen! Willkommen hier, wo Wunder wahr werden, nur weil alle so fest daran glauben. Seien Sie Gast im Traumtheater Westfalenstadion, an diesem Abend wird eine Gala Gloria gegeben. Achtung, es geht los:

Gerade ist es Nacht geworden über Dortmund, und die Arena liegt hell erleuchtet unter Flutlicht, ein Kinderchor bereitet den Rasen Weihnachtslieder singend auf das Wunder vor, auf der Südtribüne stimmen die glücklichen Menschen ein in „Jingle Bells“, sind gerührt und zünden Wunderkerzen an. Weil es Nikolaustag ist und das Ereignis ein UEFA-Cup-Achtelfinale, dürfen sich die glücklichen Menschen heute einmal etwas ganz Besonderes wünschen. Wie könnte ein Spiel aussehen, das ihnen nicht allein in Erinnerung bleiben wird, weil es gewonnen wurde, sondern weil es einer der großen Momente war? Welcher Kanon aus Glaube, Zweifel, Hoffnung wäre anzustimmen?

Huch! Über all diese Fragen sind die ersten Spielminuten längst verstrichen, die erste Halbzeit auch. Die war gar nicht schön. Die Dortmunder Helden haben sich die ganze Zeit am doppelt verschnürten Catenaccio der Kicker aus La Coruña abgearbeitet. Vergeblich, verkrampft und fast nicht mit anzusehen. Aber nun ist eindeutig, was sich die glücklichen Menschen dringend wünschen, um froh zu bleiben: ein Tor. Also bedient Kalle Riedle den Michael Zorc, und der Kapitän, ein Kind dieser Arena, ein Kämpferherz namens Susi, erzielt das 1:0. Da jubilieren die glücklichen Menschen, und alle, alle klatschen freudig und im Takt in die Hände. Es ist immer wieder schön und diese Saison auch noch so unendlich leicht, BVB-Anhänger zu sein.

Und weiter? Ein zweiter Treffer vielleicht? Nein, ein 2:0 wäre nach der 0:1-Niederlage im Hinspiel des Viertelfinales zwar auch genug gewesen, doch allzu profan, um die Partie in die Ruhmesgeschichte eingehen zu lassen. Also dürfen die aus La Coruña, allen voran Salinas, ein paar schaurig-schöne Chancen vergeben, der aufreizend lässige Caesar aller Menschen Nerven strapazieren und der wunderbare Stefan Klos im Tor sämtliche Patzer ausbügeln und alle Chancen der Galizier vereiteln. Und alle auf den Tribünen dürfen ein wenig leiden. Weil das so köstlich ist, geht das Spiel in die Verlängerung.

Zeit für ein retardierendes Moment! Einen veritablen Rückschlag auf dem Weg zum Triumph. Und siehe, La Coruñas Alfredo erzielt ein Tor, abseits- und verunglückte-Flanke-verdächtig, aber: 1:1 in der 102. Minute. Aus! Vorbei! Tragödie! Die Welt ist schlecht, im Land der glücklichen Menschen droht schweres Unglück!

Eine Viertelstunde geschieht nichts. Das sind die Minuten, in denen die Phantasielosen, die Ungläubigen unter den glücklichen Menschen, ihre Siebensachen packen und beleidigt nach Hause gehen. Sie sind doch nicht gekommen, um hier Trauerspiele zu ertragen, das wäre ja noch schöner! Dies sind die köstlichen Augenblicke, in denen sich die Träumer, die Gläubigen unter den glücklichen Menschen der Vision vom Wunder nähern. Es müßte ein zweites Tor für die Borussia fallen, dann fehlte eindeutig bloß noch ein drittes! Natürlich denken alle nur ganz verschämt und insgeheim an diese Möglichkeit, schließlich darf man auch als Günstling des Schicksals Wunder nicht zu dreist herausfordern. Deshalb geben sich die meisten der 35.400 auch noch ganz gefaßt, als Riedle wirklich kurz vor dem Ende das 2:1 köpft. Aber ein bißchen koketter wird die Stimmung schon. Und dann! Dann bekommt zwei Minuten später dieser Schulbub Lars Ricken den Ball, sprintet, drischt das Leder ins Netz und reißt die Arme hoch und wird von lauter Kumpels erdrückt, und keiner kann es glauben, und alle wissen, daß es doch wahr ist.

„Wahnsinn“, wird Ricken wenig später ganz entleert nach all den Aufwallungen sagen, „ich begreife es noch gar nicht“, und: „Ich bin einfach fertig.“ Bald schon wird er sich erinnern, immer und immer beseelter. Und wenn sich die Dortmunder Glückskinder bis ins Cup-Finale durchgeschlagen haben werden, dort auch siegen, wird auf dieses Spiel erst recht zutreffen, was sich der ungeniert sentimentale Borussia-Präsident Niebaum wünscht, nämlich daß es eines sei, „über das man noch in Jahren sprechen wird“. Damals, das Wunder am Nikolaustag, der Ricken, 119. Minute, Mensch... war das groß! Ja, solche Erinnerungen werden hier gesammelt. Im Land der glücklichen Menschen. Auf Wiedersehen. Schauen Sie mal wieder rein.

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