: Wenn die Eltern zweimal klingeln
Über Eltern, die ihre verstorbenen Kinder in die heimische Gruft holen, über das Nachsehen der Lebensgefährten und die Bemühungen der Bestattungsunternehmen ■ Von Uwe Rada
Wolfgang Behr (Name geändert) starb bei einem Motorradunfall. Zwei Tage später standen die Eltern vor der Tür der Neuköllner Wohngemeinschaft, in der Behr gelebt hatte. „Die fragten nur, wo sein Zimmer ist“, erinnert sich eine Mitbewohnerin, „holten das raus, von dem sie dachten, daß es ihm wichtig war, Briefe und so weiter, ließen die Wertgegenstände stehen und teilten mit, daß man den Sohn in Bayern beerdigen werde.“ Jahrelang hatten die Eltern von ihrem Sohn nichts mehr wissen wollen. Wolfgang Behrs Mitbewohner liefen Sturm. Umsonst. Der einzige, hilflose Protest, zu dem sie sich entschlossen, bestand darin, sich während der Beerdigung in Westdeutschland zu betrinken und den Eltern sowie den versammelten Trauergästen eine Szene zu machen.
„Richtige Tragödien spielen sich zuweilen ab, wenn es um die Frage geht, wo der Tote bestattet werden soll“, berichtet der Geschäftsführer des Bestattungsunternehmens Grieneisen, Rolf-Peter Lange. Tragödien, an denen meist Eltern beteiligt sind, die den Tod ihrer Kinder zum Anlaß nehmen, deren Leben im nachhinein umzudeuten. „Oft haben die Eltern seit Jahren nichts mehr mit den Kindern zu tun, oft wurden diese sogar verstoßen“, sagt Rolf- Peter Lange, „und nun sollen die Kinder plötzlich in die heimatliche Gruft im Schwarzwald heimgeholt werden.“ Lange berichtet von einem Fall, da standen die Eltern eines an Aids Verstorbenen plötzlich in seinem Büro, während sein Lebensgefährte gerade die Beerdigungsformalitäten für den gestorbenen Freund klären wollte.
Zum Zuge kommen diese Eltern meist dann, wenn der Sohn oder die Tochter nicht verheiratet war. Dann sind die Eltern als nächste Verwandtschaft verantwortlich für die „Totenfeier“. 1991 erregte ein Rechtsstreit Aufmerksamkeit, bei dem der Freund eines Aids- Toten gegen dessen Eltern durch alle Instanzen bis zum Bundesgerichtshof ging. Die Eltern bekamen recht. Die Bestattungsformalitäten, hieß es, hätten schriftlich niedergelegt werden müssen. Der Tote wurde aus seinem Grab in Berlin umgebettet und nach Bayern überführt. In der Berliner Aids-Hilfe ist die Problematik seit langem bekannt. „Oft erfahren die Eltern erst durch den Aids-Tod, daß ihr Sohn schwul war“, berichtet Aids-Hilfe-Sprecher Jürgen Vetter. „Sie wollen ihn dann wieder in ihre Welt eingemeinden und die Homosexualität damit ungeschehen machen.“ Vetter spricht von oft „krassen Fällen“, in denen von seiten der Eltern nicht selten sogar das Testament angefochten wird.
Die Regelung der Beerdigung zu Lebzeiten ist auch ein Grund dafür, daß die Aids-Hilfe einen Sponsor-Vertrag mit Grieneisen eingegangen ist. Ziel des Bestattungsunternehmens ist neben der Werbung vor allem die Beratung der Todkranken und ihrer Lebensgefährten sowie der Abschluß eines „Bestattungs-Vorsorge-Vertrags“, der, wie es im Amtsdeutsch heißt, die „Totenfürsorge“ regelt. Dieser Vertrag, sagt Rolf-Peter Lange, werde im Beisein seiner Mitarbeiter unterschrieben, von diesen gegengezeichnet und habe testamentarischen Charakter. „Und wenn es einmal nötig sein sollte“, verspricht Lange, „gehen wir gegen die Eltern auch vor Gericht.“ Für den Grieneisen-Geschäftsführer und FDP-Politiker Lange hat dieses Engagement auch etwas mit der Realität in Berlin zu tun, wo ohnehin ein Großteil der Paare ohne Trauschein lebe.
Von den 1,8 Millionen Haushalten in Berlin sind fast 830.000 Einpersonenhaushalte. Wie viele von den Paaren, die zusammenleben, überhaupt verheiratet sind, darüber wird keine Statistik geführt. Doch noch immer steht die „logische Familie“ rechtlich über der „Wahlfamilie“. Zu welchen Absurditäten dieser Anachronismus führt, mußte Ralf Köhler (Name geändert) erleben. Als seine Freundin bei der Geburt des gemeinsamen Kindes starb, wollten die Eltern der Freundin das Kind auf der Stelle adoptieren. Nur der Aufmerksamkeit des zuständigen Beamten war es zu verdanken, daß Ralf Köhler das Kind zugesprochen bekam. Eine „Stahlhelmheirat“ machte es möglich: Der Beamte traute die beiden ex post nach einem noch immer gültigen Gesetz aus Kriegszeiten.
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