Zensur pur

■ Vom Giftschrank in die Fernsehtruhe: "100 Minuten Vielfalt", Sa., 22 Uhr, Vox

Zehn Tage vor dem geplanten Sendetermin ihres Fernsehfilms „Bambule“ nahm Ulrike Meinhof an der Befreiung des inhaftierten Andreas Baader teil. Die Autorin galt zu diesem Zeitpunkt nur mutmaßlich als Terroristin. Inhaltlich hat ihr Film nichts mit der RAF gemein. Dennoch wurde „Bambule“, ein Fernsehspiel über die Mißstände der Heimerziehung, 1970 allein wegen des Namens seiner Autorin nicht gesendet. „Völlig zu Recht“, befindet noch heute der Medienwissenschaftler Mathias Kepplinger. Denn das Fernsehen dürfe sich „nicht vor den Karren des Terrorismus spannen lassen“.

Moderiert von Justus Boenke, diskutiert der ausgesucht konservative Mainzer mit dem Filmkritiker Dietrich „Leatherface“ Kuhlbrodt über Sinn und Unsinn von Ausstrahlungsverboten. Mit großem Aufwand hergestellte TV- Produktionen werden zuweilen jahrzehntelang unter Verschluß gehalten. Diesen „Giftschrank des deutschen Fernsehens“ hat epd- Redakteur Volker Lilienthal nun geöffnet. In „Hundert Minuten Vielfalt“ präsentiert er zwischen den Diskussionsblöcken vier charakteristische Beispiele aus einem Vierteljahrhundert „freiwilliger Selbstkontrolle“, deren Hintergründe er detail- und kenntnisreich recherchierte.

Zwei Jahre nach „Bambule“ (am 26. Mai diesen Jahres unauffällig in SWF 3 gezeigt) wurde auch das Dokumentarspiel „Der Soldatenmord von Lebach“ nicht wie geplant ausgestrahlt: Der zwischenzeitlich aus der Haft entlassene Soldatenmörder sah sich durch die dokumentarische Darstellung seiner Bluttat in seiner Menschenwürde verletzt ...

Ein aus heutiger Sicht aufschlußreicher Fall von Selbstzensur ereignete sich 1983. Für den Vorabend der Kinopremiere des US-amerikanischen Spielfilms „Der Tag danach“, der aus der Hollywood-Perspektive die Folgen eines Atomschlags darstellt, produzierte Radio Bremen im Rahmen seiner regulären Nachrichtensendung „Buten und Binnen“ einen Beitrag, der das Thema des Films in Form einer gefaketen Nachrichtensendung weiterspinnt. Die Redaktion wurde beim Sichtungstermin jäh von Skrupeln befallen und zensierte sich schließlich selbst: „Wir hätten zum ersten Mal die Leute an der Nase herumgeführt“, sagt Michael Geyer, der im Fall einer Ausstrahlung heute womöglich nicht Chefredakteur von Radio Bremen wäre.

Im selben Jahr verbot SFB- Fernsehspielchef Hans Kwier die Ausstrahlung der Genet-Adaption „Reise in ein verborgenes Leben“ des Theatervirtuosen Hans Neuenfels. Der „Pornographieverdacht“ erweist sich nach Sichtung einschlägiger Ausschnitte nachträglich als unhaltbar. Allein die „Fäkalsprache“, die man heute „besser zu umschreiben weiß“, störte den Ästheten Kwier.

Lebhaft wird die Sendung „Hundert Minuten Vielfalt“ durch den gelungenen Wechsel zwischen medienhistorischer Dokumentation und anschließender Diskussion der konkreten Beispiele. Wortreich und ein klein wenig pathetisch verteidigt Kuhlbrodt die grundgesetzlich geschützte Kunstfreiheit. Mit der verschlagenen Ruhe eines Schreibtischtäters setzt Kepplinger in knappen Sätzen eine erstaunlich vollständige Enzyklopädie konservativer Mediendoktrin dagegen, die durchweg von einem absieht: der Mündigkeit des Zuschauers.

Nicht nur Antagonist Kuhlbrodt, auch der um Neutralität bemühte Moderator Boenke muß da zuweilen schwer um Fassung ringen. Wenn Kepplinger den Mund öffnet, möchte man mit zerknüllten Bierdosen nach dem Fernseher werfen. Sein sehenswerter Zensur- Zynismus gipfelt in der Aporie, es sei eine große Errungenschaft, „daß wir heute über alles streiten“ könnten. Genau das konnten wir aber zur geplanten Sendezeit der jeweiligen Beiträge aufgrund der Zensur nicht. Der Prozeß öffentlicher Meinungsbildung ist damit nachhaltig gestört. Versäumnisse, für die es keine Wiedergutmachung gibt. Auch nicht durch „Hundert Minuten Vielfalt“. Manfred Riepe