Die B-Seite des Lebens

Jäger der verlorenen Adoleszenz – „Tim Burton's Nightmare before Christmas“, nicht von Tim Burton!  ■ Von Harald Fricke

Tim Burton hat Schwierigkeiten mit der Kleinfamilie. In keinem seiner Filme können Menschen für die Ewigkeit zusammenkommen. Statt dessen laufen Wiedergänger durch „BatmanI“ und desgleichen „-II“, Gespenster verkehren in „Beetlejuice“ den Frischvermählten die Hochzeitsnacht zur Geisterstunde, und „Edward mit den Scherenhänden“ lebt zwischen Alltagszombies und Kindmenschen. Unerlöst, nicht von dieser Lebenswelt.

Auch in „Nightmare before Christmas“ ist nichts so fremd wie die kleinen Reihenhaussiedlungen am Rande von Los Angeles. Kinder warten dort auf die Bescherung, statt dessen kommt der Tod auf Rentiergerippen dahergeritten und schüttet ihnen Schrumpfköpfe und Schlangen durch den Kamin, bevor Militär das Ganze in ein Kriegsszenario verwandelt. Kein Film fürs Fest, aber ein Weihnachtsmärchen, mit dem sich die Bilder von 1994 recht problemlos verknüpfen lassen. Durch die Hölle betrachtet sieht alles andere auch wie die Hölle aus. Trotzdem besitzt das Spektakel eine Harmonie, die technisch bis in den Schattenwurf der körperlosen Geister vor dem gelb leuchtenden Mond entfaltet wird.

Der in seiner Stop-Motion-Perfektion atemberaubend animierte Trickfilm wurde bereits vor einem Jahr in Amerika herausgebracht, wo er als Familienfilm jedoch floppte. Möglicherweise war man sich in den Produktionsstudios von Disney nicht im klaren darüber gewesen, daß das Umschlagen von Puppenmärchen in Horrorshow allzu reale Züge tragen könnte. Daß die Stimme von Oogie-Boogie, einem schurkischen Killer im Kartoffelsack, der des afroamerikanischen Jazz-Entertainers Cab Calloway ähnelt, wurde bereits politically debattiert. Die Anspielung war beabsichtigt, sie sollte in der Cartoon-Tradition etwa von Betty-Boop-Verfilmungen liegen, so Henry Selick im Interview: „Auch wenn es kontrovers bleibt und ein gewisses Schuldgefühl bei mir zurückläßt.“

Abgesehen von solchen Nebenkriegsschauplätzen bietet der Film weniger moralische als emotionale Ungereimtheiten: Jack Skellington, ein Dandy aus Helloweenworld, will Weihnachtsmann werden und muß scheitern. Das wandelnde Gebein ist nach einem geglückten Kürbisfest in amerikanischer Gruselmanier auf die Idee fixiert, daß er die immergleichen Rituale nicht mehr wiederholen kann. In Christmasworld findet er das passende Gegenstück. Dabei sind die beiden Zeichenreiche wie Maschinenwelten der Produktion aufgebaut, wobei die Alltagsmechanik der dunklen Seite ungelenker ruckelt und die Zuckerguß- Zwerge wie in einer sozialistischen Arbeitsutopie im Taktschlag schuften. Aber das ist auch kein Lebkuchenleben. Jack nun begibt sich dennoch in eine Welt, in der es ihn nicht geben kann – eine Verkettung von Unerreichbarkeiten. In diesem romantischen Sinnbild ist Jack die Art Kreatur, die in allen anderen großen Burton-Filmen wiederkehrt. „Who are you?“ wird auch Bruce Wayne unter seiner Ledermaske in der Anfangsszene zu „BatmanI“ gefragt. Er weiß es nicht.

Umgekehrt schwärmt Sally, ein zusammengenähtes Frankenmädel aus dem Labor des Mad Scientist, für das charmant wie Maurice Chevalier agierende Festtagsgerippe. Aus ihrer Sicht ist Burtons Welt ein Musical in moll, ein Residents-Epos mit Clipüberlänge. Manchmal tanzt sie das graue Kopfsteinpflaster entlang oder kauert sich betrübt in Ecken und reißt Disteln die Blütenblätter aus. Sie ahnt, daß er nicht in einer Welt außerhalb der Helloween-Konventionen überleben kann; sie warnt ihn, sie liebt ihn. Alles Flehen aber verklingt, und jeder behexende Nebel verfliegt: Santa Claus wird entführt und durch Jack ersetzt, der wie ein Verwandter von Freddy Kruger mit angeklebtem Rauschebart über die Kinderstuben kommt, ohne sich Böses dabei zu denken. Doch dann donnern die Kanonen, Jack kehrt back, und am Ende schließen sich Sally und ihr Klabautermann in die Arme. Und der Weihnachtsmann streut Schneeflocken auf ihr Haar.

Diese handwerkliche Perfektion läßt die reale Dreidimensionalität der animiert sich bewegenden Figuren fast in eine 3-D-Simulation glatter Flächen umkippen. Die Bilder wirken wie stereoskopische Übersetzungen, bei denen etwa das mit den Armen rudernde Skelett bedenklich weit aus der Leinwand hervorlugt. Tatsächlich werden auch auf der Ebene kleiner nebensächlicher Handlungen die animierten Objekte in Zeichen für Zeichen verwandelt, die Figuren taumeln beinahe durch die eigene Animiertheit: Sally näht sich selbst die Arme an.

Selbst wenn die Geschichte eher wie ein sanfter Gothic-Wind aus Mary Shelleys Grabstätte herüberweht, sind die einzelnen Szenen und Figuren schockhaft, modern und aggressiv. Köpfe lassen sich hin und herschrauben, Maden kriechen aus dem dunklen Kroppzeug, Frankenstein klont sein eigenes Gehirn. Und elternlose Kinder treiben ihren Schabernack: Trick or Treat? Aber das ist immer auch eine Frage nach dem Autor.

Man könnte versucht sein, Tim Burton als kleinen Adepten von George Lucas oder Steven Spielberg zu betrachten, die Generation danach, die Industrial Light & Magic mit anderen, subtileren Mitteln fortsetzt. Aber er will und sollte eher europäisch verortet werden; die fast zeitgleich mit „Nightmare before Christmas“ in den Kinos startende „Faust“-Verfilmung von Jan Svankmajer verdankt sich einer ähnlichen Nähe zu Buñuel, Richter, dem surrealistischen Film überhaupt. Dabei kommt er durchaus aus der Firma. Noch Anfang der Achtziger war Burton bei Disney das, was Henry Selick jetzt für ihn ist: der ungepriesene Genius des Systems, ein kleiner Animator. Sein erster Zeichentrickfilm „Vincent“ war gebaut wie ein Kinderbuch, dauerte fünf Minuten und wurde von Disney gekauft zum Ausbau in einen Spielfilm, der dann allerdings verworfen wurde. In jenen Jahren bevölkerte sich die Galerie der Burtonians: Hänsel und Gretel, Frankenweenie und eine pervertierte Form von Lassie.

Daß aber ausgerechnet Burton, der in seiner hochtoupierten Gruftigkeit eher wie ein Bandmember von The Cure wirkt, bei Disney filmt, sagt manches über die Schwierigkeiten aus, sich im amerikanischen Film seine Außenseiterposition zu bewahren. Faktisch hat man sich hier zwischen wildem Super-8-Experimental und Mainstream-Kino eine Nische eingerichtet: Die Welt der Cartoons, von Carl Barks, Chuck Jones und Fritz Frelenc bis Joe Dantes Gremlins, den Monstern von George Lucas oder eben Planet Spielberg. Auch frühe George-Romero- und Wes- Craven-Filme wildern bewußt in dieser Twilight-Zone.

Burton jedenfalls, der in seiner Jugend davon geträumt hatte, in einem Godzilla-Streifen mitzuspielen, entschied sich für eine Karriere als Animator. Bis 1979 studierte er zwar am CalArts-Institute, wo zu dieser Zeit unter anderem auch Pop-Künstler wie Mike Kelley oder Matt Mullican mit Video und Performance arbeiteten. Doch nach seinem Abschluß ging Burton direkt in die Zeichentrickfabrik. Während der Tscheche Svankmajer mit Puppen und Ton europäische Kulturgeschichte nachspielen konnte, mußte Burton „Cap und Capper – Zwei Freunde auf acht Beinen“ drehen.

Dennoch merkt man bei „Nightmare before Christmas“, wie sehr Burton an der europäischen Tradition des Illustrators hängt: Ständig wechseln die Hintergründe ihre Farben, unentwegt schillert es in Klee-Blau, Orange und Bunny-Pink. Auch bei der Wahl der Charaktere haben Zeichner wie Alfred Kubin, Chas Addams und Edward Gorey die Vorbilder geliefert. Manchmal wird man den Eindruck nicht los, daß Burton eine Art animierten Fellini filmen wollte. Denn die Bizarrerie der Protagonisten scheint in jedem Augenblick von ihnen abfallen zu können – statt Sally würde dann einfach Giulietta Masina aus der Puppenstube treten, um augenkullernd mit Marcello Mastroianni zu tanzen. Und das traurige Musiker- Trio aus Mutanten sieht bei aller Fremdheit aus wie altbekannte Emigranten, Amerikaner in Paris oder anderswo.

„Tim Burton's Nightmare before Christmas“. Regie: Henry Selick, Buch, Produktion: Tim Burton. USA 1993, 79 Min.