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Auschwitz mit den Augen einer Achtjährigen

■ Eine Tagung in Berlin befaßte sich mit denjenigen, die als Kinder den Holocaust erlebten

Berlin (taz) – Else Baker wünscht manchmal, lieber tot zu sein. Sie hat „die Hölle auf Erden“ kennengelernt, und das begriff sie erst, als sie längst erwachsen war. Mit den Augen einer Achtjährigen erlebte Else Baker von Mai bis September 1944 die Welt der Vernichtungs- und Konzentrationslager Auschwitz und Ravensbrück. Weil ihre Mutter, die sie nie gesehen hat, eine „Halbzigeunerin“ war. In Auschwitz ritzte man ihr außer der Nummer ein „Z“ in den Unterarm für „Zigeuner“. Else Baker lebt und arbeitet seit 1963 in England. Dort ist sie in therapeutischer Behandlung. Je älter sie wird, desto mehr lähmt sie die Erinnerung – an eine Zeit, die sie vergessen will, aber nicht vergessen kann. Fast jede Nacht wird sie von Alpträumen heimgesucht.

Es war ihr klar, daß die Tagung zum Thema „Kinder und Jugendliche als Opfer des Holocaust“ in der Gedenkstätte Haus der Wannsee- Konferenz Wunden aufreißen würde, die nur mühsam verheilt waren. Denn Thema der Tagung war ein Aspekt des Holocaust, über den nur wenig bekannt ist: Wie erlebten Sinti-und-Roma- Kinder Deportationen und Folter? In Mauthausen schufteten sich 12jährige in Steinbrüchen täglich zwölf Stunden zu Tode, für ein Stück Brot hatten 14jährige Jungen im Männer-KZ Buchenwald Sex mit erwachsenen Insassen, in Bergen-Belsen streunten die Kinder in Jugendbanden herum. 20.946 Sinti und Roma aus elf europäischen Ländern hat man in der Nacht zum 3. August 1944 allein in Auschwitz-Birkenau ermordet, darunter viele Kinder. Insgesamt wurden 500.000 Sinti und Roma getötet, nach nationalsozialistischem Diktum „asoziale“ und „primitive“ Menschen.

Die Baracke, in der „Zigeuner“ und „Halbzigeuner“ untergebracht sind, liegt direkt neben dem Krematorium in Auschwitz-Birkenau. Das kleine Mädchen wird mit Peitschenschlägen gezüchtigt, Else Baker schweigt nur noch. „In den ganzen Monaten habe ich höchstens drei Wörter herausgebracht.“ Der Anblick von weißgekalkten Leichenbergen, die sie beim Spielen auf dem KZ-Gelände entdeckt, und die „Mörder! Mörder!“-Schreie von Menschen in den Gaskammern schockieren sie. Einmal noch fragt sie. Wer denn da so schreie. Menschen, die verbrannt werden, klärt sie eine Frau auf. Heute vor genau 56 Jahren, am 16. Dezember 1938, ordnete „Reichsführer SS“ Heinrich Himmler die „Regelung der Zigeunerfrage“ an, ab 1942 kasernierte man sie in KZs. Nase, Ohren, Kopf und Füße von Sinti und Roma wurden für pseudowissenschaftliche Zwecke vermessen, „Ärzte“ wie Josef Mengele und Robert Ritter injizierten ihnen Tuberkulose-Viren, verätzten ihnen mit Säure die Augen, sterilisierten Mädchen ohne Betäubung und durch Röntgenstrahlen. Um das Vertrauen der „Zigeuner“ zu gewinnen, lernten Mitarbeiter des Berliner „Rassehygienischen Instituts“, die die Sinti und Roma im gesamten Reich registrierten und klassifizierten, sogar ein paar Brocken Romani.

Die Tagung legte ein Defizit in der Geschichtsforschung offen: die Vernichtung von Sinti und Roma, 1982 erst offiziell von der Bundesregierung anerkannt, wird in Schulbüchern höchstens in Nebensätzen erwähnt. Das Stigma vom Opfer zweiter Klasse mag auch der Grund sein, daß Sinti und Roma erst jetzt beginnen, Entschädigungsanträge zu stellen. „Wir versuchen, ihnen die Angst zu nehmen vor erneuter Registratur“, sagte Edgar Bamberger vom Heidelberger Dokumentationszentrum deutscher Sinti und Roma. „Wir lassen sie reden und hören zu.“ Auch Else Baker hat zusammen mit dem Dokumentationszentrum einen Antrag auf Entschädigung formuliert und ihre Odyssee aktenkundig gemacht. Die furchtbarsten Erlebnisse allerdings muß sie für sich behalten: „Über vieles, was in Ravensbrück geschehen ist, kann ich bis heute nicht sprechen.“ Thorsten Schmitz

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