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Hausbesetzen leicht gemacht

Nach Einzug von Obdachlosen in ein leerstehendes Gebäude in Paris dankt der Wohnungsbauminister den Besetzern / Jacques Chirac will ungenutzten Wohnraum beschlagnahmen  ■ Aus Paris Dorothea Hahn

Wer ein Haus besetzen will, sollte erwägen, das in Paris zu tun. Dort gibt es nicht nur massenhaft leerstehende Wohnungen, sondern auch eine Regierung, die spektakuläre Aktionen gegen die Obdachlosigkeit ausdrücklich wünscht. Der Wohnungsminister Hervé de Charette bedankt sich öffentlich für die Besetzung eines Hauses, der Regierungschef Edouard Balladur läßt den Sprecher der BesetzerInnen im Dienstwagen nach Hause chauffieren und der Pariser Bürgermeister Jacques Chirac will leerstehenden Wohnraum beschlagnahmen.

Begonnen hat die kämpferische Welle bei den Pariser Konservativen am vergangenen Wochenende. In der Nacht nachdem der erste Obdachlose dieses Winters an Erfrierung starb, hatte die Organisation „Recht auf Wohnen“ (DAL) am Sonntag ein 10.000 Quadratmeter großes Gebäude im Quartier latin besetzt. Die für ihre Kommandoaktionen bekannte DAL rückte mit Matratzen und dem nötigen Werkzeug an, um das Haus sogleich bewohnbar zu machen. 19 Familien – 100 Personen, davon die Hälfte Kinder – zogen sofort in die seit Monaten leerstehende Bleibe ein, während draußen vor der Tür Prominente das Ganze erklärten.

„Im Namen des Gesetzes“ sagte der 82jährige Abbé Pierre mit zittriger Stimme ins Megaphon, „ist dieses Haus beschlagnahmt.“ Der Armenpriester, der seit 40 Jahren gegen die Obdachlosigkeit kämpft, ist der populärste aller Franzosen und ein Gesprächspartner, an dem kein Politiker vorbeikommt. Von den HausbesetzerInnen aus begab sich der alte Mann direkt zum Regierungssitz. Dort versprach ihm der Regierungschef Edouard Balladur, daß er keine Polizei einsetzen und nach Lösungen für die Wohnungsnot und gegen die Verelendung suchen werde. Dann fuhr ein Chauffeur Baladurs Abbé Pierre nach Hause in die Normandie.

Dem weiteren Erfolg der Hausbesetzung waren damit alle Tore geöffnet. Schließlich bereitet Balladur eine Präsidentschaftskandidatur vor und will den Wahlkampf mit dem „sozialen Thema“ bestreiten. Die Reaktion von Jacques Chirac, ebenfalls konservativer Präsidentschaftskandidat, ließ keine 24 Stunden auf sich warten. Am Montag ließ er wissen, Leerstand sei „unerträglich“ und das Gesetz von 1945 zur Beschlagnahmung von Wohnraum solle wieder angewendet werden, wenn die Besitzer „große Finanzgruppen“ seien.

Der Wohnungnotstand ist tatsächlich erreicht: Rund 200- bis 400.000 Menschen sind in Frankreich obdachlos, so die offiziellen Zahlen. Abbé Pierre geht sogar von 600- bis 800.000 aus. Dem gegenüber stehen Hunderttausende leerstehende Wohnungen und Millionen Quadratmeter ungenutzter Bürofläche: Allein in Paris sind heute 118.300 Wohnungen unbewohnt. HausbesetzerInnen in spe haben also große Perspektiven. Doch sie sollten sich beeilen, denn im Mai sind die Präsidentschaftswahlen vorbei, und was einmal gewählte PolitikerInnen tatsächlich tun, hat erfahrungsgemäß mit ihren Versprechungen wenig Ähnlichkeit.

Präsident François Mitterrand beispielsweise, der als sozialistischer Wahlkämpfer „die Gesellschaft ändern wollte“, bedauert 13 Jahre später, daß es ihm nicht gelungen ist, die sozialen Ungerechtigkeiten auszugleichen.

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