: Ein Päckchen von der Solidarność
Die polnische Gewerkschaft fünf Jahre danach: Ihre Mitglieder streiken für niedrige Steuern, verkaufen Kühlschränke und verteilen Karpfen ■ Aus Jastrzebie Klaus Bachmann
Es ist halb elf Uhr vormittags, eine Temperatur knapp an der Gefriergrenze, immer wieder werfen mächtige, aber klapprige Lastwagen Matsch auf die Windschutzscheibe. Hinter uns verschwinden Fabrikschlote, Verwaltungstürme und die Silhouetten der Kraftwerke des Kattowitzer Industriegürtels im Nebel, langsam erreichen wir den ländlicheren Teil Schlesiens. Wir rumpeln über enge Landstraßen, vorbei an Bauernhöfen und zersiedelten Straßendörfern, ab und zu ein Hügel. Von Zeit zu Zeit ragen zwischen einstöckigen Häuschen Plattenbauten heraus, über zehn Stockwerke hoch, mit vierzig oder fünfzig Wohnungen. „Eine Schlafburg, ein Supermarkt, eine Kohlegrube“, meint Adam sarkastisch, „dazwischen spielt sich das Leben ab. Vielleicht noch ein Kulturzentrum, wenn's der Gemeinderat nicht aus Kostengründen abgeschafft hat.“
Adam heißt mit Nachnamen Jawor, ist Pressesprecher der Oberschlesischen Gewerkschaftsorganisation von Solidarność und kommt eigentlich aus den Bergen hinter Krakau. In den achtziger Jahren gehörte er zur Bewegung „Freiheit und Frieden“, die gegen Atomkraftwerke, die kommunistische Armee und gegen Polens Kommunisten auf die Straße ging. Dafür saß er einige Zeit auch hinter Gittern. Den Runden Tisch hält er bis heute für Verrat an den Zielen von Solidarność: „Die Tschechen haben die Kommunistische Partei für verbrecherisch erklärt, bei uns hat es nicht mal eine anständige Stasi-Debatte gegeben. In Tschechien haben sie die Anteile an den privatisierten Betrieben unters Volk verteilt. Bei uns haben die Kommunisten die unter sich aufgeteilt.“
Hinter dem Ortsschild „Jastrzebie Zdroj“, einem Kurort an der tschechischen Grenze, der schon einmal bessere Zeiten erlebt hat, zweigt die Straße nach links ab. Ein großer Omnibusbahnhof und einige Verwaltungsgebäude verdecken die Steinkohlegrube Jastrzebie, eine der Hochburgen von Solidarność. „Unternehmergeist und Ideenreichtum führen den Menschen zum Erfolg“, behauptet ein riesiges Plakat über dem Omnibusbahnhof, und es ist nicht ganz klar, ob sich sein Schöpfer zu kommunistischen Zeiten im Text geirrt oder beschlossen hat, einen kommunistischen Text der neuen Wirklichkeit anzupassen. Zumal es unter den neuen marktwirtschaftlichen Bedingungen für die Bergleute schwer ist, erfolgreich zu sein. Denn inzwischen ist klar, daß es billiger ist, Kohle aus Australien herbeizuschaffen, als sie in Schlesien zu fördern. Seither kämpfen die Kumpel um ihre Arbeitsplätze und die paar Privilegien, die ihnen noch geblieben sind. 1988 haben sie die kommunistische Regierung an den Runden Tisch gestreikt. Hat jene Klasse, die Demokratie und Marktwirtschaft erkämpft hat, am schlechtesten dabei abgeschnitten? „Noch so einen Sieg überleben wir nicht“, meint ein Solidarność-Funktionär grinsend. Der heimliche König der Bergarbeiter von Jastrzebie heißt Andrzej Ciok, ist ein untersetzter, rundlicher Mittvierziger mit den Bewegungen eines Leichtgewichtsboxers, der er auch tatsächlich einmal war. Jetzt trägt er eine schnittige violette Modekreation einheimischer Produktion mit Jackett und Krawatte, einen goldenen Solidarność-Anstecker und paukt seinen Leuten ein, daß er sie natürlich versteht, daß sie ihn als Vorsitzenden der Gewerkschaftsorganisation wiederwählen wollen, daß sie das aber trotz Mangels an Gegenkandidaten geheim tun müssen.
In dem engen, holzgetäfelten Saal mit stickiger Luft, in dem sich wortkarge Männer mit abgetragenen Jacken drängen, findet eine Delegiertenwahl der Solidarność von Jastrzebie statt. Ciok wird erwartungsgemäß und unter Hochrufen ein weiteres Mal und bei nur vier Enthaltungen wiedergewählt. In seiner Rede wettert er gegen Verleumdungen, die ihn mit einer Privatfirma in Verbindung bringen, mit deren Hilfe Teile der Grube privatisiert werden sollen. Tatsächlich sei er da nicht als Privatmann drin, sondern als Gewerkschaftler: „Wir müssen das unter Kontrolle bekommen, sonst hauen sie uns wieder übers Ohr.“
Karol Luzniak, Gewerkschaftsexperte für die Steinkohlebranche, kommt ihm zu Hilfe: „Wir sind auf die neuen Zeiten nicht vorbereitet. Wir haben im abgelaufenen Jahr nur ein einziges Mitglied in den Schulungskurs für Aufsichtsräte geschickt. Wir müßten hundert dahin schicken. Wir müssen rein in die Aufsichtsräte der Kohlefirmen.“ Was passiert, wenn dort keine Gewerkschafter sitzen, illustriert er den Männern mit Hilfe der „Kohleaffären“: „Nach Presseberichten sind dem Bergbau über eine Milliarde Dollar verlorengegangen durch Scheinfirmen, die Kohle verschoben haben, ohne zu bezahlen.
Als nächstes wird über die Zusammensetzung der Betriebskommission abgestimmt, nach und nach stellen sich etwa vierzig Kandidaten für die zehn Plätze vor. Ein dreißigjähriger Steiger wird gefragt, warum er vor zwei Jahren die Grube gewechselt habe. „In der Fabrikswohnung der Grube Anna fiel dauernd das Wasser aus. In der Firmensiedlung von Jastrzebie nicht. Also hab' ich gewechselt.“ Keiner lacht. Einige nicken. Ein überzeugendes Argument.
Ein Raunen geht durch den Saal. Marian Krzaklewski, der vor vier Jahren Walesa als Solidarność-Vorsitzender folgte, tritt ein. Er soll die Zeit überbrücken, in der die Stimmen ausgezählt werden. Krzaklewski setzt mit einer hochpolitischen Rede an, in der er nachweisen will, „daß wir heute nicht da anknüpfen, wo die demokratische Zwischenkriegsrepublik aufgehört hat, sondern da, wo die Kommunisten aufgehört haben“. Krzaklewski ist nicht gerade ein Volkstribun, er spricht träge, und ab und zu unterbricht ihn auch noch Ciok, um die neuesten Wahlergebnisse bekanntzugeben.
Am Ausgang steht ein Gruppe Grubenarbeiter, qualmt die unvermeidlichen „extrastarken“ Zigaretten und nimmt den Faden auf. „Klar, früher waren wir privilegiert“, sinniert einer, „wenn's überall Schlangen gab, waren die Läden für die Bergleute in Oberschlesien immer voll. Aber da ging's halt eben nur uns gut.“ Nein, zurück will er die Zeiten nicht. „Jetzt geht's uns besser: keine Sonderschichten mehr für die Partei, die Sowjetunion, den Frieden oder den nächsten Parteitag, die Sicherheit unter Tage hat sich verbessert, wir haben jetzt modernere Maschinen. Schlecht ist's nur für die, die entlassen werden.“
Am Vortag prallte Lech Walesa im Parlament mit Polens Regierungsparteien, der exkommunistischen Sozialdemokratie und der Bauernpartei, zusammen. Wer's im Fernsehen verfolgt hat, kommentiert es nun. Anders als die jungen Parlamentsreporter verstehen die Kumpel Walesas Sprüche. Er habe es den Kommunisten ordentlich gegeben, heißt es. Aber wählen würden sie ihn nicht noch einmal. „War wohl ein Mißverständnis damals“, meint einer über die Wahlen von 1990, als Solidarność für Walesa als Präsidenten trommelte, „soll nicht wieder vorkommen.“
In einem Nebenraum des Verwaltungsgebäudes hängen Nebelschwaden dicken Zigarettenrauchs über dem Schreibtisch, auf den jemand Weihnachtsgebäck gestellt hat. Die Sozialsektion der Gewerkschaft wartet auf den Startschuß fürs Verschicken der Weihnachtspäckchen, die an die Mitglieder abgehen. Da werden Schokolade und Kekse für die Kinder drin sein und ein paar Gutscheine, die man bis Mitte Januar in ausgewählten Läden gegen einen Weihnachtskarpfen eintauschen kann. Die Männer hier sind nicht grundsätzlich gegen die Reformen der letzten fünf Jahre. Wladek, ein bauchiger Blonder mit einer Igelfrisur, seit fünfzehn Jahren unter Tage, verheiratet, zwei Kinder, hat seinen privaten Frieden mit der Privatwirtschaft gemacht. Die ganze Grube kennt ihn als erfolgreichen Händler. In seiner Freizeit dampfte er per Bahn nach Bialystok an die weißrussische und litauische Grenze, kaufte den dort handelnden Balten und Russen ihre Fernseher und Kühlschränke ab und schaffte sie nach Jastrzebie.
„Fast die ganze Grube hat irgendwas von Wladek in der guten Stube stehen“, witzelt Maciej. Er selbst arbeitet, wie er zugibt, sowieso nur ein Drittel des Jahres. Anschließend nimmt er unbezahlten Urlaub, holt seinen deutschen Paß aus der Schublade und fährt nach Deutschland. Das ist allerdings auch nicht mehr ganz das Wahre in letzter Zeit: „Wenn ich offiziell arbeite und 3.000 Mark im Monat verdiene, bleiben mir grade noch 1.500 übrig, der Rest sind Steuern und Sozialabgaben. Dafür Hühnerställe ausmisten oder in einer Schlachterei schuften, das bringt's nicht mehr.“
Sehnsucht nach kommunistischen Zeiten hat keiner: Wenn man nach Kattowitz fahren wollte, waren die Züge so voll, daß man Glück hatte, wenn man überhaupt rein kam. Heute sind sie teuer, aber elegant. Und oft leer. Grzegorz, ein hochgewachsener Bursche ohne deutschen Paß, hat ein anderes Problem: „Es lohnt sich nicht mehr zu arbeiten“, rechnet er vor. „Wenn du ein paar Überstunden machst, landest du in der zweiten Steuerklasse, und sie nehmen dir 33 Prozent weg.“ Wladek hat eine ganz besonders idiotische Lücke entdeckt. Seit kurzem hat die Regierung die Wohnungssubventionierung geändert: Die Wohngenossenschaften erhalten kein Geld mehr aus Warschau, dürfen die Mieten erhöhen, wie sie wollen; wem es zuviel kostet, erhält statt dessen Wohngeld von der Gemeinde. Wladek: „Wenn ich 21 Tage im Monat im Schacht schufte, muß ich meine Miete selbst zahlen. Wenn ich nur 17 Tage arbeite und den Rest blaumache, krieg' ich von der Gemeinde die Differenz. Ist das nicht bescheuert?“
Adam Jawor meldet sich durch die immer dichter werdende Rauchwolke zu Wort: „Vor kurzem war eine Delegation vom Deutschen Gewerkschaftsbund hier. Als die gehört haben, daß Solidarność für niedrigere Steuern kämpft, haben sie uns angesehen wie Mondkälber.“
Maciej öffnet eine Glasvitrine und holt einen Holzprügel hervor. „Mit solchen Prügeln haben wir uns 1988 während der Streikwelle gegen die Polizei verteidigt.“ Das ist der Startschuß zu einem nostalgischen Rundumschlag über die alten Zeiten. „Es gibt einen Unterschied zwischen der oberschlesischen Solidarność und der von Restpolen“, erklärt Adam Jawor, „die schlesischen Mitglieder sind fast alle seit den achtziger Jahren dabei und waren damals schon aktiv.“ So hat sich eine Art Ethos gehalten, das anderswo verschwand, als die Gewerkschaftsführer in die Politik gingen. In Westpolen, Warschau und Pommern gibt es daher wahrscheinlich keine Zukunft für eine rechtsgerichtete, antikommunistische Gewerkschaft, die für Steuersenkungen streikt.
In Schlesien mit seinen Kohlegruben, Hütten und Großbetrieben, seiner Industriekultur ist die Solidarność-Welt noch in Ordnung. Hier gelten Polens Exkommunisten nicht nur als die Nachfolger der früheren Unterdrücker, sondern auch als Eindringlinge aus Warschau, die sich in schlesische Angelegenheiten einmischen. Die aber machen die Schlesier am liebsten unter sich aus. Als 1981 der Kriegszustand verhängt und Solidarność verboten wurde, da mußte auch der damalige Grubendirektor von Jastrzebie gehen – er hatte zur Belegschaft gehalten. Auch mit dem jetzigen Direktor, der vor zwei Jahren per Ausschreibung ins Amt kam, komme man gut aus, gibt Maciej zu. „Klar, die Kommunisten würden gern wieder ein paar ihrer Fossilien von früher hier reindrücken“, nickt Grzegorz, „aber dafür gibt's ja Solidarność, daß das nicht passiert.“ Abschätzig wiegt er den Holzknüppel aus der Vitrine in der Hand. Draußen ist es dunkel geworden, die meisten Busse sind schon abgefahren. Ein älterer Mann mit einer leicht schneebedeckten Mütze betritt den Raum und zerteilt die Rauchschwaden mit der Hand. Er sei der Fahrer. Sie könnten die Weihnachtspäckchen jetzt einladen.
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