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Rätselhafte Schambeinwölbung

Ältestes Kunstwerk der Welt: „Der Löwenmensch“ aus den Ulmer Prähistorischen Sammlungen  ■ Von Christian Gampert

Der Löwenmensch ist eine anrührende Figur: Aus dem Stoßzahn eines Mammuts geschnitzt, steht dieses Wesen mit gespreizten Beinen und einem eher steif wirkenden Leib da; die Füße sind menschlich, sogar die Knöchel sind herausgearbeitet, auch die Kniekehlen sind deutlich zu erkennen. Die Arme aber ähneln kurioserweise den kräftigen Hinterläufen einer Raubkatze, während auf dem Menschenrumpf ein traurig blickender, schematisierter Löwenkopf sitzt.

Diese 30 Zentimter hohe Statuette ist wahrscheinlich das älteste (erhaltene) Kunstwerk der Welt, rund 30.000 Jahre alt. Württembergische Archäologen haben sie in mühevoller Kleinarbeit aus Einzelteilen zusammengepuzzelt. 1939 hatte man bei Grabungsarbeiten im Lonetal bei Ulm das (extrem haltbare) Elfenbeinmaterial gefunden, ihm aber keine Beachtung geschenkt – der Grabungsleiter trug schon seinen Einberufungsbefehl zum Militär in der Tasche.

Erst in den sechziger Jahren wurde der Tübinger Archäologe Joachim Hahn plötzlich darauf aufmerksam, daß diese mittlerweile im Ulmer Museum inventarisierten Funde aus der Hohlenstein-Höhle Spuren von Bearbeitung aufwiesen. Aus rund 200 Einzelteilen setzte er daraufhin den „Löwenmenschen“ zusammmen – wenn auch zunächst nur fragmentarisch. Kuriose Zufälle ermöglichten dann die etwas vollständigere Rekonstruktion der Figur: Im Nachlaß des schon 1962 verstorbenen Tübinger Anatoms und Altertumsforschers Robert Wetzel fanden sich weitere Fragmente, und Mitte der siebziger Jahre übergab eine bis heute unbekannte Frau einem Aufseher der Ulmer Prähistorischen Sammlungen eine Schachtel – darin befanden sich Elfenbeinlamellen, die ihr kleiner Sohn in einem abgesperrten Bezirk der Höhle aufgelesen hatte und die sich nun als Teile von Fuß und Maulpartie des Löwenmenschen herausstellten. Mischwesen aus menschlichen und tierischen Elementen sind in der eiszeitlichen Kunst üblich. Es gibt allerdings nur wenige Funde aus dieser entfernten Epoche – sie stammen aus Mähren, Österreich, der Dordogne, der Ariège und eben von der Schwäbischen Alb, wo diverse Kalksteinhöhlen vom Lone- und Achtal von den Eiszeitmenschen zumindest zeitweise bewohnt und benutzt wurden.

Aber selbst bei vergleichender Betrachtung kann man nur sehr vage Rückschlüsse auf mythologische oder religiöse Vorstellungen der damaligen Bewohner Mitteleuropas ziehen.

Sicher ist, daß die dargestellten Tiere in der eiszeitlichen Jägerkultur als Nahrungsmittel eine wichtige Rolle spielten, andererseits bedrohliche Elemente waren. Man hat nicht nur Mammuts, sondern auch Löwen gejagt – obgleich man vor dem spätpleistozänen europäischen Höhlenlöwen, dem Panthera leo spelaea, ziemlichen Respekt hatte: Für den Künstler war der Löwenkopf sicherlich ein Potenzsymbol.

Möglicherweise diente der ausgestellte Löwenmensch als ritueller, gottähnlicher Gegenstand zur Abwehr von Übel; vielleicht aber, so eine Hypothese des Archäologen Joachim Hahn, ist der Löwenmensch auch die Abbildung eines Maskenträgers. Dann hätte man es mit der Darstellung eines Schamanen zu tun, der Kontakt zu einer geistigen Welt aufzunehmen sucht – und sich während der Beschwörungszeremonie zu einem Zwitterwesen wandelt, zum Mittler wird.

Aber all das sind letztlich Spekulationen. Weder die Höhlenmalereien und -ritzereien in Mittelfrankreich (in der Höhle „Les Trois Frères“ wurden Löwen offenbar als „Wächter des Heiligtums“ benutzt) noch die in Österreich und der Tschechoslowakei gefundenen Statuetten geben genaueren Aufschluß über ihre Bedeutung und Funktion. Auffällig ist nur, daß die Menschendarstellungen der eiszeitlichen Ära (bei denen es sich fast ausschließlich um Frauen handelt) weitaus weniger naturgetreu sind als die Tierbilder – obwohl man künstlerisch zu einer differenzierten, individuelleren Menschendarstellung in der Lage gewesen wäre. Aber vielleicht durfte man das nicht?

Die steinzeitlichen Frauenstatuetten stilisieren nämlich, häufigstes Motiv, die weibliche Fruchtbarkeit: Man sieht überdimensionierte Brüste und Bäuche, eine angedeutete Scham, charakteristischerweise aber nie ein Gesicht. Die aus Kalkstein gefertigte „Venus von Willendorf“ (Niederösterreich) ist ein beeindruckend wulstiges Wesen, das praktisch nur aus Schwangerschaft besteht; eine in Dolni Vestonice (Mähren) gefundene, aus Lehm gebrannte Figur hat immerhin Sehschlitze. In späteren Phasen, also eher 20.000 bis 10.000 Jahre vor Christus (Spätmagdalénien), sind die Figuren noch stärker schematisiert: die Gönnersdorf-Gestalt (Rheinland- Pfalz) ist eine abstrahierte Frau, die als einziges Merkmal Brüste hat.

Diverse Strukturmerkmale dieser Werke tauchen in der modernen Kunst wieder auf, egal ob bei Henry Moore oder bei Picasso: Wer die Höhlenreliefs von La Magdeleine (Garonne) sieht, wird an Barlachs lagernde Frauen denken; und wer die Felsmalerei „Mann, Bison und Vogel“ aus der Dordogne-Höhle von Lascaux ansieht, der wird sich unschwer an Picassos (natürlich ungleich differenzierteres) „Paar mit Vogel“ von 1970 erinnern.

Daß der auf der Schwäbischen Alb gefundene Löwenmensch dennoch eine eng umrissene Bedeutung gehabt haben muß, belegen die Kerben und Zeichen, die vor allem auf dem linken Arm der Figur angebracht sind – und wohl kaum der bloßen Verzierung gedient haben. Der Ulmer Archäologe Kurt Wehrberger vermutet, daß diese Symbole nach der Logik eines Kalenders funktionierten, wahrscheinlich sogar der eines Mondkalenders.

Was die sieben waagerechten Einschnitte am Arm des Löwenmenschen aber nun präzis bedeuten – niemand weiß es. Man weiß noch nicht einmal, ob der Löwenmensch ein Mann oder eine Frau ist. Der eigentliche Entdecker der Figur, der Archäologe Joachim Hahn, interpretiert eine zwischen den Beinen befindliche Wölbung als Penis und sieht die Figur als Mann. Seine (inzwischen verstorbene) Basler Kollegin Elisabeth Schmid sah in der Wölbung ein weibliches Schambein – und folglich in der Figur eine Frau. So ist offenbar auch die Eiszeit ein weites Projektionsfeld für die Wissenschaft: Man sieht nur das, was man sehen will.

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