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Fräulein Anni Geißels Strichliste

Michelangelo Caravaggios „Inspiration des heiligen Matthäus“ auf der Spur. Muß das Gemälde endgültig auf die Verlustliste der durch den Krieg zerstörten Kunstschätze? Eine 50.-Jahrestags-Geschichte  ■ von Christian Semler

Fassungslos umringten am 22.September 1602 die Priester und Kirchendiener von San Luigi dei Francesi den Altar. Ein großer nackter Zeh ragte ihnen drohend aus dem soeben fertiggestellten Altarbild entgegen. Der Zeh gehörte dem Fuß des Evangelisten Matthäus. Der heilige Mann hatte die ebenfalls nackten, muskulösen Beine übereinandergeschlagen und war mit der Niederschrift seines Werks beschäftigt. Ein serpentinenhaft sich schlängelnder Engel führte ihm die Hand in einer Weise, die allzu deutlich verriet, daß Matthäus des Schreibens unkundig war. Die ganze kräftige Gestalt hatte überhaupt nichts Heiliges an sich, war dafür aber körperlich unverschämt präsent. Glatze und Vollbart erinnerten an Sokrates, nicht aber an den Chronisten von Jesu Erdenleben. Dieser Matthäus, so die Priester der Französischen Gemeinde in Rom, war „senza decoro ne aspetto di Santo“. Kurz entschlossen hängten sie das sehnsüchtig erwartete Bild wieder ab.

Dabei hatte der Urheber des frevlerischen Werks, Michelangelo Merisi – nach seinem Herkunftsort Caravaggio genannt –, zwar einen mehr als zweifelhaften Leumund. Als Künstler aber war er trotz seiner Jugend bereits „egregius in urbe pictor“, ein „herausragender Maler der Stadt“. Zur vollen Zufriedenheit der Frommen hatte er zwei Jahre vorher für St. Luigi Berufung und Martyrium des Matthäus fertiggestellt. Doch so enttäuscht die Kirchenleute jetzt über sein neues, plebejisches Machwerk waren, so entzückt war der Marchese Giustiniani, ein Förderer des begabten Tunichtguts. Caravaggio malte im Eiltempo eine zweite, angemessene Version des Themas. Das neue Bild hing im Februar 1603 am Altar, die erste Version wurde Giustinianis Sammlung einverleibt.

Die nachfolgenden Giustiniani- Generationen bemühten sich redlich, die vom Ahn aufgehäuften Kunstschätze zusammenzuhalten, aber der einstmals so vermögenden Familie blieb bald nichts als der renommierte Name. Erst mußten die Pretiosen verhökert werden, schließlich, 1812, ging der Rest einschließlich der Gemälde nach Paris, wo die Herren d'Est und Bonnemaison die Kunstschätze für rund 150.000 Franc erwarben. Ein Jahr später betraten mit den Heeren der Anti-Napoleon-Koalition auch die Kunstagenten des preußischen Königs die feindliche Hauptstadt. Im Hochgefühl des Sieges war das Projekt einer großen preußischen Galerie geboren worden, und die Händler sahen eine Gelegenheit. Sie kauften „en bloc“, und das preußische Bilderverzeichnis führt bereits zehn Jahre später vier Caravaggios auf. Der „Ungläubige Thomas“ landete in Potsdam, der „Heilige Matthäus“ aber gehörte zum Kernbestand des späteren Kaiser- Friedrich-Museums auf der Insel. Zusammen mit den Werken jener Meister, die dem Päderasten Caravaggio so viel zu verdanken haben: Rubens und Rembrandt. Einträchtig hingen sie dort, bis mit Hitlers Krieg die Katastrophe hereinbrach.

Als in den fünfziger Jahren der kleine Rainer Michaelis auf seinem Kinderroller zur Schußfahrt den Trümmerberg Am Friedrichshain hinunter ansetzte, wußte er nicht, daß er später Kunsthistoriker werden würde. Erst recht konnte er nicht ahnen, daß im Januar 1995 von seiner Hand ein Katalog erscheinen würde, dessen Inhalt auf untergründige Weise mit dem Ort seines waghalsigen Kindervergnügens zusammenhing. Denn unter den schütteren Bäumchen und Rasenflächen der Anhöhe Am Friedrichshain stand jener Bunker, der während des Zweiten Weltkriegs den Berliner Museen als bombensicheres Depot diente und in dem – folgt man den Berichten der Zeitzeugen – nach der Besetzung des Viertels durch die sowjetische Armee ein Brand ausbrach. Über 140 große Werke der europäischen Malerei fielen den Flammen zum Opfer. „Die vermißten Werke der Berliner Gemäldegalerie“ heißt das dieser Tage erscheinende Werk, das erste in einer langen Reihe von Verlustanzeigen.

In der Berliner Kunstbibliothek findet sich ein Bestandsverzeichnis der Gemäldegalerie von 1931, das letzte seiner Art, an dessen Rand neben jeder Bildbeschreibung mit Bleistift ein Buchstabe vermerkt ist. B für Berlin, R für Rußland, W für Wiesbaden, A für ausgeliehen – und Fr für Friedrichshain. Wo das schreckliche Fr auftaucht, ist die Nummer des Bildes kurz entschlossen durchgestrichen. In den Zwischenräumen der Texte finden sich Kritzeleien, die Datierungs- und Zuschreibungsprobleme betreffen. In runder Schönschrift steht am Anfang „Ihrer Exzellenz A. v.Bode (dem vormaligen Generaldirektor) in Verehrung und Dankbarkeit“.

Zwei Frauen sind mit diesem Verzeichnis verbunden, zwei Trümmerfrauen besonderer Art. Verfaßt und später kommentiert hat es Irene Kühnel-Kunze, zuerst Volontärin, dann Sachbearbeiterin der Gemäldegalerie. Buchstaben und Strichliste stammen von Anni Geißel, der allwissenden, allzuständigen Sekretärin, die auch nach der Teilung Berlins der Galerie auf der Museumsinsel die Treue gehalten hat. Dieses Duo der Schatzwächterinnen erweiterte sich bei Kriegsende zur Troika, als Gerda Bruns, Assistentin des Antiken-Direktors Weickert, todesverachtend zwischen der Museumsinsel, dem Leitturm Friedrichshain und dem Flakturm Zoo pendelte; hier den Einbau antiken Mauerwerks in eine Barrikade verhindernd, dort die betagten, verängstigten Museumswachen aufmunternd.

Überstürzt und viel zu spät war der „Führerbefehl“, der die Auslagerung der Kunstwerke aus den Flaktürmen Richtung Westen, in sichere Bergwerksschächte, anordnete, gekommen. Aus den Beständen der Gemäldegalerie, des Kaiser-Friedrich-Museums, mußten eine Reihe meist großformatiger Werke im Friedrichshain zurückbleiben – man war der Meinung, sie paßten nicht in die Förderkörbe des Bergwerksschachts. Als die Sowjetsoldaten eintrafen, zeigte eine erste Inspektion, daß im Leitbunker Friedrichshain alles in Ordnung war. Dann folgte das Unheil, über das später Irene Kühnel und Gerda Bruns berichteten. Ihrer Darstellung nach zerstörte ein erster Brand am 6. Mai das erste Stockwerk des Leitturms, verschonte aber die Depots im dritten Stock. Dann aber, zwischen dem 14. und 18. Mai, vernichtete ein zweiter Brand alles, was sich in jenem dritten Stock befand: Bestände der Antikenabteilung, des Kupferstichkabinetts, Kunstgewerbe, Skulpturen – und die zurückgebliebenen Gemälde.

Fräulein Geißlers Strichliste stürzt noch den heutigen Leser abwechselnd in manische und depressive Gemütszustände. Jan van Eyck, Andrea Mantegna , Rembrandt, Vermeer – jubilate! Im sicheren amerikanischen Besatzungsgewahrsam (W gleich Wiesbaden) gelandet und nach einigem Hin und Her sowie nach einem kurzen Zwangsaufenthalt in den USA nach Berlin (diesmal W gleich Westberlin) zurückgekehrt. Dann tiefe Niedergeschlagenheit: Lucas Cranach, Paolo Veronese mit fünf, Peter Paul Rubens mit neun, Anthonis van Dyck mit je fünf Fr-Vermerken, Murillo, der ältere Brueghel, Sir Joshua Reynolds – und schließlich drei der Werke Caravaggios, unter ihnen die „Inspiration des heiligen Matthäus“ mit dem nackten Zeh. Was für eine späte, entsetzliche Rache der erzürnten Gottheit!

Wer waren die Banditen gewesen, die diese Katastrophe zu verantworten hatten? Plünderer, die Papierfackeln benutzt und das Depot versehentlich in Brand gesetzt hatten? Zu dieser Ansicht neigte nach dem Krieg das Duo der Schatzwächterinnen. Hitlerjungen, „Werwölfe“, die in Vollstreckung von Hitlers „Nerobefehl“ die Kunstwerke anzündeten, damit sie nicht in den Besitz der „bolschewistischen Untermenschen“ gelangten? Dies die Meinung der DDR- Museumsoffiziellen. Aber warum war der Leitturm von sowjetischen Soldaten so schlecht bewacht, daß Unbefugte überhaupt eindringen konnten? Waren zum Zeitpunkt der Katastrophe gar keine Kunstwerke mehr im Depot, und war der Brand nur gelegt worden, um die Öffentlichkeit irrezuführen?

Hier tritt Günther Wermusch auf den Plan, ehemals in der DDR Sachbuchautor, Lektor und seit 1985 passionierter Jäger der verlorenen Schätze. In „Tatumstände (un)bekannt“ von 1990 bestreitet er vehement die These vom Untergang der großformatigen Gemälde in Friedrichshain. Mit Ausnahme weniger Werke hätten alle Gemälde in den Förderkorb des Schachts Kaiseroda gepaßt. Beim Abtransport von Berlin seien nur die Kistennummern vermerkt worden, nicht aber ihr Inhalt. Über die Zahl der Kisten gibt es widersprüchliche Angaben. Eine erste Ladung mit Bildern sei vom amerikanisch besetzten Kaiseroda aus unregistriert abgegangen. Oder hat ein Teil des Transports nie sein Ziel in Kaiseroda erreicht?

Merkwürdig sei es schon, daß man im Bunker so wenig nach Überresten gesucht habe, denkt sich Kunsthistoriker Michaelis, aber schließlich – die Zeitläufte! Günther Wermuschs Kombinationen steht er skeptisch gegenüber. Bei den Förderkörben habe man sich halt geirrt, und ein genaues Verzeichnis der transportierten Bilder sei nicht nötig gewesen. Jeder treue Hirte im Dienst des Kaiser-Friedrich-Museums hätte seine Schäfchen im Kopf gehabt. Das stärkste Argument aber ist für Michaelis, daß nach 1945 nie eines der Gemälde auf einer Auktion aufgetaucht ist. Er bestreitet die Behauptung von Wermusch, daß solche Geschäfte ausschließlich im verborgenen blühen könnten. Schließlich sei die Verlustliste vom Friedrichshain weltweit bekannt.

Immerhin heißt der Katalog von Michaelis „Vermißte Bilder“ – nicht „Zerstörte“. Die Todesurkunde will der vorsichtige Wissenschaftler erst ausstellen, wenn der Beweis des Untergangs vorliegt. Werden wir die „Inspiration des heiligen Matthäus, 1. Version“ je wieder sehen, oder müssen wir uns für immer mit der matten 2. Version begnügen, die 1603 vor den Augen der Kleriker von S. Luigi Gnade fand? Nur der laszive Engel an Matthäus Seite wird es wissen!

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