: Die Suche nach den Sündenböcken
■ Umweltschützer sollen die Verstärkung der Deiche in den Niederlanden verhindert haben / Schuldzuweisungen auch an Deutschland / Eine Viertelmillion Umweltflüchtlinge
Utrecht (dpa/AP/taz) – In den Niederlanden wurde gestern noch um die Standfestigkeit der Deiche gekämpft. Die Wasserpegel haben langsam zu sinken begonnen. Die im gefährdeten Gebiet noch verbliebenen Menschen wurden zwangsevakuiert. Eine Viertelmillion Menschen ist nun auf der Flucht vor der Flut. Hunderte Soldaten waren im Einsatz, um die Deiche mit Planen und Sandsäcken zu verstärken.
Unterdessen haben die Schuldzuweisungen begonnen. Die alten Deiche hätten schon längst verstärkt werden sollen. Bevorzugte Sündenböcke bei Politikern, Wasserbauexperten und weiten Teilen der Bevölkerung: Deutschland, das den Rhein zu sehr kanalisiert habe, und die Umweltschützer, die den Ausbau des Deichsystems verhindert hätten.
„Diese Deiche stehen hier so seit dem 13. Jahrhundert, und sie sind nicht erhöht worden wegen des ganzen Unsinns dieser Umweltfreaks“, schimpft ein 75jähriger aus Tiel in der besonders schwer betroffenen Provinz Gelderland. Roelof van Loenen von der Umweltschutzstiftung der Provinz Gelderland hält dem entgegen, man dürfe nicht Sicherheit der Menschen und Schutz der Umwelt gegeneinander ausspielen. Marijke Brundt, Sprecherin der Stiftung Natur und Umwelt aus Utrecht, meint, wenn die Deiche um wertvolle Lebensräume herumgebaut würden, hätten auch die Naturschützer nichts gegen sie einzuwenden.
Die wahren Ursachen der Rheinflut lägen doch ohnehin anderswo: in Deutschland eben. Dem stimmte auch der Präsident des Deutschen Naturschutzrings, Wolfgang Engelhardt zu. In den vergangenen Jahren seien hierzulande Flüsse auf einer Gesamtlänge von 360.000 Kilometern kanalisiert worden. Jetzt sei man mit den ersten „europäischen Umweltflüchtlingen“ konfrontiert.
Probleme hatten die Behörden aber nicht nur mit Umweltschützern, die Pappelalleen, Nistplätze und Feuchtbiotope retten wollen. Auch Häuser, zum Teil ganze Siedlungen müßten bei einer Deichverbreiterung weichen; Verkehrswege würden monatelang stillgelegt werden. Einsprüche und lange Verfahren sind somit unausweichlich. 538 Kilometer Dämme und Deiche in Gelderland müßten erneuert oder verstärkt werden. Der niederländische Ministerpräsident Wim Kok hat am Dienstag das Parlament ersucht, die langwierigen Genehmigungsverfahren zu verkürzen.
In Deutschland, wo die Pegelstände weiter sinken, haben inzwischen die Aufräumarbeiten begonnen. Lloyds schätzt die Hochwasserschäden in Europa auf 6,1 Milliarden Mark. lieb
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