: Das Irrlicht des Gemeinsinns
Die Linke bedarf keines neuen Gemeinsinns, sondern lediglich der nüchternen Einsicht, daß sie, wenn überhaupt, nur als linksliberales Milieu überleben wird / Der Zweck ihrer Politik kann nur die Freiheit des Individuums sein ■ Von Micha Brumlik
Nicht nur Hobbywanderern ist die Erfahrung geläufig: Abstiege sind meist schwieriger als Aufstiege, das Gelände wirkt minder vertraut als erwartet, der Weg immer länger, zudem wird es spät. In einer ähnlichen Lage befindet sich nach dem Ende des Kalten Krieges die westliche, zumal die ehedem Neue Linke. Der Rückweg von den Gipfeln eines Denkens, das vor noch nicht zwanzig Jahren die Revolution ins Auge faßte, zur Realität der bestehenden Gesellschaft, der lange Marsch zur Talstation einer „nachsozialistischen Linken“ (Joschka Fischer) nimmt sich umständlich und – natürlich – „unübersichtlich“ aus.
In dieser Situation sind viele zerknirscht, geben einige mehr oder minder überzeugend die Rolle der Nachdenklichen, während andere Reife, Selbstbewußtsein und Souveränität demonstrieren. Dabei fällt eine spezifische Anfälligkeit der besinnlichen Linken für konservative Argumente auf – für Argumente, die im Unterschied zu anderen Demokratien nur in Deutschland mit dem semantischen Gütesiegel „wertkonservativ“ versehen werden.
Die gegenwärtigen Wiederentdeckungen des Subsidiaritätsprinzips, der kleinen Netze, der Familie und der Gemeinschaft, schließlich der „zivilen Gesellschaft“, von der niemand so genau weiß, was sie eigentlich ist, mag sozialpolitisch sinnvoll sein – eine politische Theorie der nachsozialistischen Linken können sie ebensowenig ersetzen, wie es das Gewahrwerden der Grenzen des Wachstums konnte. Die Suche nach einer politischen Neuorientierung hat daher nur zu konsequent die technokratisch gewordene Ökologiedebatte aufgegeben und sich erneut den klassischen Fragen der Politik, den Fragen nach der Freiheit, der Gerechtigkeit und dem guten Leben zugewendet. Die Begriffe jedoch, unter denen diese Fragen erörtert wurden, ließ man sich – wie die Themen selbst – von den Konservativen vorgeben: „Werteverfall“ und „Desintegration“! Als respektable theoretische Bezugsgröße tauchte dann der – jüngst sogar von Wolfgang Schäuble anstelle der Nation bemühte – US-amerikanische Kommunitarismus auf.
Diese in sich vielfältige Strömung verheißt eine theoretische Fundierung und begriffliche Klärung dessen, was viele unter „Wertkonservativismus“ erahnen. Ein genauer Blick auf die US-amerikanische Debatte zeigt freilich, daß sich auch der „linke“ Kommunitarismus – von Sandel über Etzioni bis zu Walzer – einer verhängnisvollen Konfusion verdankt. Die in ihrem moralischen Motiv über jeden Zweifel erhabene Kritik am erneuerten Manchesterkapitalismus von Thatcher und Reagan wurde nämlich durch eine grundsätzliche Kritik ausgerechnet am Programm einer liberalen und sozialstaatlichen Theorie politischer Gerechtigkeit, wie sie vor allem von John Rawls und Ronald Dworkin ausgearbeitet wurden, vorangetrieben. Entsprechend geraten dann – diesseits und jenseits des Atlantiks – wichtige Unterscheidungen durcheinander: Selbstbestimmung wird mit Selbstentfaltung verwechselt, Autonomie mit Egoismus gleichgesetzt, Individualisierung mit Atomisierung identifiziert, Gerechtigkeit als Eigenschaft von Institutionen zum Ausdruck bürokratischen Herrschaftsstrebens erklärt. Derlei Verwechslungen sind nicht nur ein Indiz besinnungsloser Übernahme kulturkritischer Stimmungen, sondern vor allem ein Symptom dafür, daß die politisch unumgängliche Lösung vom Marxismus unreflektiert vollzogen wird und deshalb zu scheitern droht.
Das läßt sich an einem gerne beschworenen Projekt der nachmarxistischen Linken, nämlich der „zivilen Gesellschaft“, von der viele meinen, daß sie durch einen „Gemeinsinn“ im Sinne Hannah Arendts durchwaltet sein möge, zeigen. Die „Civil Society“ ist nämlich, so sahen es nämlich ihre Vordenker, namentlich der frühliberale John Locke (1632-1704) in erster Linie eine Gesellschaft von Eigentümern. Eigentum aber gilt in dieser Tradition keineswegs nur als materieller Besitz, sondern als naturrechtlich verbürgter, vertraglich besiegelter und rechtsstaatlich garantierter Anspruch auf Individualität und Eigenheit – von der Unverfügbarkeit des eigenen Leibes, der eigenen Wohnung bis zur Reise-, Bekenntnis- und Meinungsfreiheit.
Daß dieses Privateigentum im Rahmen eines ökonomischen Systems wie des kapitalistischen zu Unrecht und Unterdrückung führen muß, war nicht erst die Erkenntnis von Karl Marx – schon Rousseau hat diese Kritik unüberbietbar deutlich artikuliert. Der Beitrag von Karl Marx bestand darüber hinaus – wider Rousseau und all seine heutigen Nachfolger, gegen die Utopisten auch der „zivilien Gesellschaft“ – in der Einsicht in die unauflösliche, notwendige Doppelheit von Bourgeois und Citoyen, von privatem Eigentümer und republikanischen Demokrat, von menschenrechtlich geschützter Person und politisch mit anderen verbundenem Bürger. Karl Marx führte diese Einsicht zu der verhängnisvollen Konsequenz, um der Aufhebung des Bourgeois willen auch die Aufhebung des Citoyens anzustreben und sich dabei einer gesellschaftlichen Bewegung, dem Kommunismus, zu überlassen, die darauf zielte, die Menschen dareinst von der Bürde der Politik zu befreien. Die Erfahrung des oft genug verbrecherischen Scheiterns einer von dieser Idee inspirierten Politik könne jedoch Marxens analytische Einsicht in die untrennbare Doppelgestalt von Bourgeois und Citoyen nicht vergessen machen und sollte daher nicht zu leichtfertigen Hoffnungen führen – etwa dem Wunsch nach einer vom Gemeinsinn geleiteten, von der Bürde des Eigentums nimmer beschwerten Gesellschaft von Aktivbürgern.
Noch unplausibler als diese sind jedoch Vorstellungen gesellschaftlicher Solidarität im Sinne von Gemeinschaften, die – vermeintlich unmittelbar – die moderne Gestalt des Individuums mitsamt seiner Entfremdung glauben unterbieten zu können. Wünsche nach einem Sozialismus von Geist und Gefühl im Rahmen einer Gesellschaft, die auf dem privaten Eigentum im umfassenden Sinne – von den Menschenrechten bis zum materiellen Besitz – beruht, sind im besten Fall gut gemeint, im schlechtesten Fall pure Ideologie.
Anstatt derlei Surrogaten anzuhängen, wäre die nachsozialistische Linke gut beraten, die andere Seite der Medaille, das heißt den Bourgeois, den Eigentümer zu betrachten. Dabei wird sich ergeben, daß der Zweck von Politik – wie Hannah Arendt einmal formulierte – Freiheit ist, diese Freiheit aber ihre Wurzel in der geschützten Eigenheit des Individuums hat. Wo diese Eigenheit aber nicht in Theorie und Praxis verfaßt, das heißt nicht durch eine von Gewaltenteilung geprägte Rechtsgemeinschaft und die ihr entsprechenden Garantien gegen die Ansprüche des Staates, der Gesellschaft, von Herkunft, Sitte und Moralen, von Familie und Gemeinschaft verbürgt ist, kann von bürgerlicher Freiheit jedenfalls keine Rede sein. Bürgerliche Freiheit findet im übrigen ihre Grenzen alleine an der Freiheit anderer, nicht aber am Anspruch transzendenter Werte.
Mit dieser überlegung läßt sich zudem auch eine Schwierigkeit im Umgang mit der ehemaligen DDR beheben. Angesichts der Umstände, daß dort soziale Sicherheit garantiert und die Verteilung materieller Güter jedenfalls egalitärer geregelt war als im Westen und zudem wesentliche Diskriminierungen ohne politischen Hintergrund – sieht man von den Arbeitsimmigranten ab – nicht stattfanden, darf man durchaus behaupten, daß die ehemalige DDR ein Minimum gesellschaftlicher Gerechtigkeit verwirklicht hatte. Alleine aus diesem Umstand zu schließen, daß sie kein Unrechtsstaat war, unterliegt einer Verwechslung. Die ehemalige DDR war tatsächlich kein Ungerechtigkeitsstaat, aber mangels funktionierender Abwehrrechte der Bürger wider den Staat, mangels politischer Freiheiten eben doch kein Rechtsstaat und damit ein Un-Rechtsstaat.
Die gesellschaftlich verbürgte Eigenheit des Individuums, seine Freiheit ist in ihrem Wert freilich erheblich beeinträchtigt, wenn den Individuen die materiellen Voraussetzungen, diese Freiheit zu leben, wegen der systematischen Ungerechtigkeiten kapitalistischen Wirtschaftens entzogen werden. Deshalb ist der Sozialstaat, den die westlichen Demokratien seit den dreißigerJahren in unterschiedlichen Formen durchsetzten, im Prinzip nichts anderes als der Versuch, jenen Menschen, die – sei es als zum Verkauf gezwungene Besitzer von Arbeitskraft, sei es als Besitzer kleiner Kapitalien, sei es als noch nicht oder nicht mehr arbeitsfähige Personen – beim Konkurrenzkampf nicht mithalten können, gleichwohl die materiellen Bedingungen ihrer individuellen bürgerlichen Freiheit zu erhalten. Daher stellen die gegenwärtigen Versuche, den Sozialstaat nicht nur – weil er zu teuer geworden ist – effizienter zu finanzieren, sondern ihn unter Hinweis auf bürokratische Herrschaft, Entfremdung und die Kraft unmittelbarer zwischenmenschlicher Solidarität um- oder gar abzubauen, nicht nur einen Angriff auf legitime soziale Besitzstände, sondern einen Anschlag auf die liberale Demokratie selbst dar.
In gewisser Weise treffen kulturkritische Einwände gegen den Sozialstaat ja zu: Als Empfänger staatlicher Transferleistungen, die nach Maßgabe administrativer Rationalität vergeben werden, sind die Individuen vereinzelt. Der Sozialstaat garantiert ihnen nämlich als den Privatleuten und als den womöglich in ihrer Wirkung beeinträchtigten Bürgern, die sie sind, ein Minimum materieller Ressourcen, das es ihnen ermöglichen soll, politisch mitzuwirken und an jenen Arbeitsprozessen, in denen ein meist ungenügender Besitz geschaffen wird, teilzunehmen.
Der gegenwärtige Zangenangriff von marktliberalem Sozialstaatsabbau und konservativer Gemeinschaftsrhetorik unterminiert aber nicht nur die liberale Demokratie, sondern vernebelt zugleich die Grenzen politischen Handelns. Insbesondere die aus der kommunitaristischen Debatte überschwappenden Appelle an Eigenverantwortlichkeit, an Bürger- und Gemeinschaftssinn verkennen, daß politisches Handeln bürgerliche Freiheit durch den Einsatz von Recht garantieren, soziale Gerechtigkeit über Subventionen und Umverteilungen von Geld je und je einrichten, aber Geschwisterlichkeit oder Solidarität nicht herstellen kann. Von den drei Idealen der Französischen Revolution ist das früher als „Brüderlichkeit“ bezeichnete Ideal politisch am schwersten durchzusetzen, weil sein Medium weder Recht noch Geld, sondern Kommunikation ist. Alle Versuche, entsprechende Werthaltungen über Arbeitsdienste oder Gesinnungsunterricht direkt durchzusetzen, sind bisher entweder gescheitert oder nichts anderes als der erste Schritt zu einer bevormundenden Gesellschaft. „Solidarität“ oder „Gemeinsinn“ – diese so überlebenswichtige Ressource bürgerlicher Gesellschaften liegt tatsächlich nirgendwo anders als in den Händen, Köpfen und Herzen der Bürgerinnen und Bürger selbst. Die Ressource „Solidarität“ mag zwar indirekt durch Geld und Recht gefördert werden, steht aber selbst nicht zur Disposition der Politik.
Politisch bedarf die Linke also keines neuen Gemeinsinns, sondern lediglich der nüchternen Einsicht, daß eine nachsozialistische Linke – wenn überhaupt – nur als linksliberales Milieu weiterexistieren wird. Als linkes Thema verbleibt heute nur noch das unbedingte und universalistische Eintreten für das Recht der Eigenheit und ihre vernünftige Selbstbestimmung im Rahmen der Freiheit, sofern man aus Gründen historischer Erfahrung auf die Aufhebung jener sozialen Verhältnisse verzichtet, die oben als bürgerliche Gesellschaft bezeichnet wurden.
Wer sich das vor Augen hält, wird auch vor jenen Verführungen gefeit sein, mit denen heute nationalbewußte Rechtsliberale oder Faschisten um Anschluß buhlen. Hält man sich nämlich vor Augen, daß nach Maßgabe der von ihnen stets bemühten Totalitarismustheorie die Wertegemeinschaft der erzreaktionären und blutigen Diktatur Francos klassisches Beispiel einer autoritären und eben nicht totalitären Herrschaft war, wird man wissen, warum das Truggebilde eines „antitotalitären Konsenses“ getrost zurückgewiesen werden darf. Linksliberale werden allenfalls – wenn es denn auf derlei überhaupt ankäme – einen „liberalen Konsens“ einfordern. Wer also die Idee autonomer Individuen im Rahmen der staatlich garantierten sozialen Freiheit mitträgt, ist allemal willkommen. Auf Gemeinschaftstheoretiker aber, mögen sie sich als nachdenkliche QuerdenkerInnen oder stromlinienförmige Zeitgeistsurfer gebärden, kann verzichtet werden. Beim schwierigen Abstieg zur Talstation spielen sie nur die Rolle von Irrlichtern.
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