■ Interview mit Cem Boyner über die Zukunft der Türkei: „Die Menschen sind dem Regime um Lichtjahre voraus“
Cem Boyner, Vorsitzender der Ende 1994 neugegründeten Partei „Bewegung für neue Demokratie“ (YDH), besucht ab heute die Bundesrepublik. Der 39jährige Textilindustrielle wird neben Außenminister Kinkel und Parlamentspräsidentin Rita Süssmuth auch zahlreiche Repräsentanten aus Wirtschaft und Politik treffen.
taz: Können Sie uns die Grundzüge einer politischen Lösung der kurdischen Frage skizzieren?
Cem Boyner: Das politische Establishment muß die Probleme endlich beim Namen nennen. Weil wir dies nicht tun, führt das leider dazu, daß das Ausland dies macht. Und wir sehen dann die Ausländer als Feinde an und wenden uns nach innen. Dies ist eines der größten Probleme der Türkei. Zuerst müssen Reformen durchgeführt werden, um die kulturelle Identität der Kurden anzuerkennen. Alle Verbote, die die kurdische Kultur und Sprache betreffen, müssen aufgehoben werden.
Wir sagen aber auch offen, wogegen wir uns wenden. Nämlich, daß jede ethnische Identität das nationale Selbstbestimmungsrecht einklagt. Türken und Kurden leben seit Jahrhunderten zusammen. Solange aber das Recht auf kulturelle Identität nicht anerkannt wird, wird die kurdische Frage weiterexistieren.
1984 begann die PKK (Arbeiterpartei Kurdistans) den bewaffneten Kampf. Damals war sie eine kleine, unbedeutende Organisation. Doch heute verfügt sie über Tausende Guerilleros und über eine Basis unter den Kurden. Sie hat so zur Renaissance des kurdischen Nationalismus beigetragen. Ist nicht der Spielraum türkischer Politik äußerst beschränkt, wenn die PKK ausgegrenzt wird?
Die kurdische Frage fand mit dem Terrorismus der PKK Eingang in die Tagesordnung der Türkei. Türkische Politiker haben sich zur Angewohnheit gemacht, die kurdische Frage nur unter dem PKK-Gesichtspunkt zu sehen. Diese fehlerhafte Optik bringt falsche Reflexe hervor. Das geht so weit, daß diejenigen, die Demokratie in der Türkei fordern, entweder als kurdische Separatisten oder als islamische Fundamentalisten denunziert werden. Die kurdische Frage wurde seitens der PKK mit derben Mitteln auf die Tagesordnung der Türkei gehievt. Heute ist der Terrorismus der PKK wiederum ein Haupthindernis für eine Lösung.
Für den Westen war die Türkei stets von geostrategischer Bedeutung. Das einzige muslimische Land, das laizistisch ist, galt als Hort der Stabilität. Ihre „Bewegung für neue Demokratie“ will einen neuen gesellschaftlichen und politischen Konsens. Auch Kurden und politische Islamisten sollen Teil davon sein. Doch ist es nicht so, daß die Kurden einen eigenen Staat und die Islamisten einen anderen, einen religiös-fundamentalistischen Staat wollen?
Daß der politische Islam beteiligt sei, ist unrichtig. Es gibt eine breite Mitte jenseits extremer türkischer Nationalisten, kurdischer Nationalisten, islamischer Fundamentalisten und extremer Linker. Das sind über 80 Prozent der Bevölkerung. Ich glaube, daß auch die Kurden keinen eigenen Staat wollen. Hierin liegt die Chance der Türkei. Es gibt hier keine separatistische Massenbasis. Es gibt auch keine Massenbasis, die einen islamistischen Staat will. Doch da sind Menschen, die ein Ende des antidemokratischen Regimes fordern. Wir sagen, daß es Übergänge zwischen verschiedenen Identitäten gibt. Ein Mensch kann Türke, Sunnite, gläubig oder ungläubig, Unternehmer oder Arbeiter sein. Er kann Kurde, Alawit und Fußballfan sein. Wir können die Menschen nicht in eine Identität sperren.
Europa kann zur Lösung der Probleme in der Türkei beitragen, indem es die Türkei aufnimmt. Nehmen Sie die Menschenrechtsverletzungen, die Folter, die antidemokratische Praxis und die Verletzung der Prinzipien der Marktökonomie – all das repräsentiert nicht die Türkei. Es wirft nur ein Licht auf das jetzige politische Establishment. Die Menschen in der Türkei sind keine Anhänger der Folter. Die Menschen klagen über das antidemokratische Regime. Europa darf die Türkei nicht ausgrenzen, denn die Bevölkerung in der Türkei ist dem politischen Establishment um Lichtjahre voraus.
Gegen Tausende Menschen laufen vor den Staatssicherheitsgerichten Prozesse wegen kritischer Äußerungen zur Kurdenfrage. Kurdische Abgeordnete sitzen im Gefängnis ein. Genießen Sie besondere Immunität?
Gegen mich sind vor dem Staatssicherheitsgericht und vor anderen Gerichten Ermittlungsverfahren im Gang. Zu einer Anklageerhebung ist es bislang nicht gekommen. Als ich den inhaftierten Vorsitzenden der Ölarbeitergewerkschaft, Münir Ceylan, besuchte, habe ich ihm gesagt, daß er bald frei sein wird. Weil dieses System ihn nicht länger eingesperrt halten kann. Jetzt ist er frei.
Und ich behaupte auch, daß sie den Schriftsteller Yașar Kemal nicht verurteilen können. Die Gesetze sind wichtig, wichtiger aber ist das internationale Recht. Wenn unsere Gesetze hinter dem internationalen Recht bleiben, dann müssen sie eben geändert werden.
In unserem Programm steht klipp und klar: Wir werden die Staatssicherheitsgerichte und den Nationalen Sicherheitsrat abschaffen. Damit sind wir die erste politische Partei, die solche Forderungen ins Programm geschrieben hat. Warum? Weil die Bevölkerung es fordert. Die Gesetze müssen sich dem Zeitgeist anpassen und nicht umgekehrt.
Wenn wir einen Blick auf die türkische Geschichte werfen, sehen wir auf der einen Seite die Jungtürken und die kemalistischen Republikgründer, die von oben herab die Gesellschaft modernisieren und verwestlichen wollten. Nun erscheint Ende des 20. Jahrhunderts Ihre Partei, die einen neuen Konsens fordert.
Der Kemalismus war zu Anfang des Jahrhundertes eine wichtige Formel, um die Türkei mit Europa zu vereinigen. Wir sind keine Kemalisten. Denn heute ist der Kemalismus ein Hindernis für die Integration in den Westen. Er ist repressiv, staatsinterventionistisch, er enthält Momente der Ausländerfeindlichkeit und eines nach innen gerichteten Nationalismus und Populismus. Ohne eine Koalition von Gläubigen und Laizisten gibt es keine Lösung der Probleme in der Türkei. Und auf der Welt wird es ohne eine Koalition von Christen und Muslimen keinen Frieden geben.
Ich glaube auch, der Westen muß aufhören, mit zweierlei Maß zu messen. Man kann nicht autoritären Kräften Beifall zollen, wenn sie intolerant gegenüber Muslimen sind, und sie dann ausbuhen, wenn sie intolerant gegenüber Kurden sind. Interview: Ömer Erzeren
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