Das Prinzip Chaos

■ Existentielle Themen, tänzerisch hohes Niveau - und finanzielle Krise: Joseph Tmims Tolad Dance Company

Macht und Ohnmacht, Gewalt und Vernichtung: als Joseph Tmim im Januar 1994 mit dem Tanzstück „Le Vent“ seine vier Monate zuvor gegründete Toladá Dance Company vorstellte, waren seine künstlerischen Hauptthemen in Berlin längst bekannt. Fünf Jahre lang hatte er gemeinsam mit Leanore Ickstadt Dance Berlin geleitet, eine Kompanie, die aus der Berliner Tanzszene wegen ihrer qualifizierten TänzerInnen herausragte.

Auf Tmims eigene Gruppe war man gespannt – von dem, was geboten wurde, wurde man nichtsdestotrotz überrascht. Der Choreograph hatte sechs hochkarätige TänzerInnen gefunden, die mit seiner persönlichen, emotional aufgeladenen und expressiven Tanzsprache korrespondierten. Mit „Le Vent“ hatte er zugleich ein Stück geschaffen, das seine früheren Arbeiten an Stringenz und Dichte bei weitem übertraf.

Ein knappes Jahr später – nach der Wiederaufnahme einer älteren Arbeit („Volonté de fer“) und einem von den Tänzern choreographierten Abend – wurde im Dezember „Hevel Bavel – ein Hauch von Babylon“ im Theater am Halleschen Ufer uraufgeführt. Noch weniger als bei den vorherigen Stücken wird hier eine Geschichte erzählt. Schnell faßbare Aussagen, konkret dechiffrierbare Positionen sucht man in den Choreographien von Joseph Tmim vergeblich. Man sieht Zustandsbeschreibungen, Annäherungen an und Auseinandersetzungen mit emotionalen Extremzuständen.

Gemeinsam mit seinen TänzerInnen entwickelt der Choreograph eine Bewegungssprache, die oft den Eindruck eines seelischen Aufruhrs vermittelt, den die tanzenden Körper nicht mehr kontrollieren können: Gewalttätige Explosionen schleudern ihre Körper im Raum umher. Das ist oft hoch artistisch: Das Bewegungsvokabular (Stürzen, Schlagen, Aufbäumen, Getragenwerden) wird mit beeindruckender Intensität und Authentizität ausgeführt.

Den Weg zu solcher Expressivität beschreibt Tmim folgendermaßen: „Bei dieser Produktion war zum Beispiel ,Traum‘ ein Thema, mit dem ich gearbeitet habe. Aber natürlich kann ich das so nicht während der Arbeit sagen, das zerstört alle Möglichkeiten – für mich und für die Tänzer. Meine Aufgabe ist es, Material zu finden, mit dem sich dann zum Beispiel eine Traumqualität herstellen läßt. Ich gebe den Tänzern einige wenige Motive, Bewegungen und stelle so den Rahmen her, in dem sie ihre eigene Beziehung entwickeln können. Das hat natürlich manchmal auch mit Manipulation zu tun. So gab ich der Tänzerin Einat eine bestimmte Bewegungssequenz, und als sie diese vollständig entwickelt hatte, sagte ich (und das machte sie zuerst völlig wütend): ,Jetzt lache. Frag nicht warum, mache deine Bewegungen und lache dabei.‘ Es ist, als ob man zwei Kanäle kurzschließt. Darin ist ein Moment des Schocks enthalten, und es ist zugleich genau der Moment, in dem der Tänzer einen inneren Zugang finden, eine neue Ausdrucksqualität entwickeln kann. Das ist natürlich ein Risiko, man weiß nicht, was und ob überhaupt etwas dabei herauskommt.“

Auf diese Weise sprengt Joseph Tmim jede fixierte Struktur – Chaos ist das Prinzip seiner choreographischen Schrift: Ihre Grammatik wird immer wieder aufgebrochen, um neu formiert in gehetzte oder ebenso unvermittelt in trancehafte Sequenzen zu münden. In „Hevel Bavel“ wird das Chaos selbst thematisiert. Das Stück ist eine Meditation über zerstörte menschliche Kommunikationsfähigkeit. Reizüberflutung ist ein Leitmotiv der Inszenierung, vorgeführt wird ein Riß in unserem Bewußtsein: Ungefiltert dringen Oberflächenreize verwüstend in Körper und Seelen ein. Stimmen und Stimmungen gehen durcheinander, verdichten und verschieben sich.

Man sieht, wie Einat Tuchman ihren Körper verrenkt und zugleich lacht. Der Zuschauer kann nicht erkennen: Ist sie verrückt, verzweifelt oder vielleicht glücklich? Man hört Gregory Livingston einen Schmachtfetzen singen, während sich sein Körper aus entsetzlicher Sehnsucht verzerrt. Gezeigt werden Menschen, die im Spannungsfeld ihrer Gefühle und Wünsche und der Unmöglichkeit, sie auszudrücken, zu zerreißen drohen. „Hevel Bavel“ ist eine Reflexion über die moderne Sprachkrise und Zivilisationsschäden. Und es ist zugleich ein Blick in ein archaisches Vor-Bewußtes.

Das Stück entwickelt seine Kraft und Qualität aus der Symbiose von Chaos und kalkulierter Form – das Chaos ist mathematisch hergestellt. Es gibt keine logische Abfolge, keine kausalen Zusammenhänge, nichts, was sich als Anfang, Mittelteil oder Ende identifizieren ließe. Die einzelnen Parts wurden während der Arbeit in immer kleinere Stücke zerbrochen – eine fortgesetzte Fragmentarisierung und Reduktion.

Entstanden ist daraus ein Beziehungsflecht von schnell aufeinanderfolgenden, sich zum Teil wiederholenden Tanzsequenzen – von Bruchstücken, die sich von der Wirklichkeit entfernt haben und nur noch im Bezug zueinander gelesen werden können. Tanz wird so hermetisch. Kühl und emotional zugleich läßt er eine irreale Seelenlandschaft entstehen.

Unterstützt wird das durch die wirksam reduziert gestaltete Bühne von Cécile Bouchier: ein sechs mal sechs Meter großes, aus mehreren Platten zusammengesetztes Podest in der Mitte, das die Tänzer zusammenschieben und wieder auseinanderreißen; sowie ein manchmal kupfern glänzender Belag, der zunächst als Boden, dann als Rückwand dient. Ebenso wie in „Le Vent“ und „Volonté de fer“ wird das Bühnenbild aktiv (also physisch) mit in das Geschehen einbezogen. So wird der Raum nicht nur zum Ort der Handlung – er wird zum Teil der Körpersprache.

220.000 Mark hat der Beirat für freie Gruppen der Kompanie für dieses Jahr bewilligt. Das ist die mit Abstand höchste Projektförderung. Doch angesichts des Niveaus sowie der Organisationsform der Gruppe ist das nicht genug (zum Vergleich: Die auf drei Jahre optionsgeförderten Tanz- und Theatergruppen erhalten jährlich ungefähr doppelt soviel). Joseph Tmim, der mit einer höheren Förderung fest gerechnet hat, sieht sich nicht in der Lage, seine TänzerInnen, die Probenräume und Trainer wie geplant das ganze Jahr hindurch zu bezahlen.

Eine absurde Situation: Die vielversprechendste freie Tanzkompanie Berlins, die über die hochkarätigsten TänzerInnen verfügt, gerät in dem Moment, in dem sie einen enormen Qualitätssprung macht, in eine Existenzkrise. Jetzt können nur noch SponsorInnen helfen. Michaela Schlagenwerth