: Wer wartet denn da auf den Musenkuß?
Auf der Suche nach schwuler deutscher Gegenwartsliteratur ■ Von Rolf Spinnler
Noch ein Literaturstreit gefällig? Wenn in den Feuilletons die professionellen Auguren das Elend, das Verschwinden oder die Amerikanisierung der zeitgenössischen deutschen Literatur so wortreich zu beklagen wissen – warum nicht noch einen draufsatteln und sich die Erben von Platen und George, Hans Henny Jahnn und Thomas Mann vorknöpfen: Wie steht er da, der schwule Mann, in der deutschen Literatur?
Die Ausgangslage dürfte auf den ersten Blick gar nicht so schlecht sein: Trotz der harten Konkurrenz der audiovisuellen Medien sollen ja homosexuelle Männer – will man einer Marktanalyse des Wall Street Journal Glauben schenken – häufiger zum Buch greifen als ihre heterosexuellen Geschlechtsgenossen. Bloß: zu welchem? Ja sicher: Ralf Königs schwule Comics verkaufen sich so gut, daß sogar Staatsanwälte neugierig wurden. Und Detlev Meyer spielt in seinen Gedichten und Prosatexten so virtuos mit allen literarischen Klischees, daß er sich den Ehrentitel camp heldenhaft verdient hat.
Comics und camp style sind urbane, postmoderne Spielarten der Literatur: Sie profitieren vom Verfall des Schriftmonopols, indem sie die Müllberge der alphabetischen Kultur wiederaufbereiten in Karikatur oder Parodie. In den heroischen Zeiten der Moderne aber hatte sich die homosexuelle Literatur der Apotheose der Schrift verschrieben. In ihr sollte sagbar sein, wovon man – Wittgenstein zufolge – nicht sprechen konnte: „the love that dare not say its name“; und festgehalten werden, was durch die vergehende Zeit zu entschwinden drohte: der Augenblick der wahren Empfindung. Prousts Roman der Erinnerung und Rettung der verlorenen Zeit wurde zum literarischen Modell einer schwulen Ästhetik, Maske und Melancholie zu ihren zentralen Stilfiguren.
Und was passiert, wenn die Homosexuellen solche Maskeraden nicht mehr nötig haben, weil sie sich nicht länger verstecken müssen? Es gibt Literaturkritiker wie Robert K. Martin, die zugeben, daß die schwule Emanzipationsbewegung der letzten 25 Jahre für die Literatur auch einen Verlust bedeutete. Wo Oscar Wilde und E.M. Forster, Henry James und Thomas Mann raffinierte Techniken der Verhüllung und Enthüllung des homosexuellen Begehrens erfinden mußten, können die schwulen Kids heute ohne Umschweife zur Sache kommen: Literatur im emphatischen Sinne brauchen sie dazu nicht mehr.
Unter der Oberfläche einer scheinbaren Vereinheitlichung schwuler Lebensstile im Zeichen der Pop-Kultur bestehen freilich sehr wohl unterschiedliche nationale Traditionen fort. Überall dort, wo sich noch Reste großbürgerlicher Lebensformen halten konnten, hat auch die klassische homosexuelle Ästhetik noch eine Chance. Am deutlichsten ist dies in den Ländern Ostmitteleuropas, wo unter der Glasglocke des Sozialismus vieles von dem konserviert wurde, was sich hier im Westen längst aufgelöst hat. So konnte Péter Nádas in seinem grandiosen „Buch der Erinnerung“ (1986) noch einmal das Proustsche Romanprojekt erneuern. Aber auch die Bücher von Juan Goytisolo, Dominique Fernandez, Gerard Reve oder Edmund White verdanken ihr stilistisches Niveau der Spannung zwischen den Traditionen und Tabus einer bürgerlichen Kultur und dem Skandal schwuler Leidenschaften und Lüste.
In Westdeutschland dagegen war nach dem verlorenen Krieg der Traditionsbruch stärker als anderswo. Allem Gerede von einer Restauration zum Trotz haben „Wirtschaftswunder“ und 68er- Kulturrevolution die traditionellen bürgerlichen Werte langsam, aber stetig zersetzt und das alte Bildungsbürgertum durch eine neue konsumorientierte Mittelschicht ersetzt. Diesen Aufsteigern der sozialdemokratischen und neoliberalen Ära aber mußten das heroische Projekt einer Literatur der Erinnerung und die Tabuverletzung einer Literatur der Überschreitung vorkommen wie Märchen aus längst vergangenen Zeiten. Wo der Konsumhedonismus den schwulen Yuppies sexuellen Genuß ohne jeden komplizierten Umweg offeriert, wird Literatur überflüssig. Es sei denn, sie wirkt als zusätzliches Stimulans, als Flimmern und Rauschen nach Art der Videoclips und Seifenopern, das den Konsumzyklus in Gang hält. Wenn die schwulen Jünglinge in ihren 50l-Jeans sich von ihren Altersgenossen nur noch in Nuancen unterscheiden, weil bei den Mittelschichtkids auch die Heteros sich die Kennzeichen homosexuellen Lebensstils – vom Narzißmus bis zum „Single“, vom Haargel bis zum Herrenparfüm – längst als zusätzliche Duftmarken angeeignet haben, was soll da noch eine spezifisch „schwule“ Literatur? – So ist es denn kein Zufall, daß die beiden derzeit bedeutendsten deutschsprachigen Autoren homoerotischer Literatur keine Deutschen sind – und außerdem nicht der hierzulande doch tonangebenden neuen Mittelschicht entstammen.
Der Schweizer Christoph Geiser kann von sich zu Recht sagen, er komme aus „Buddenbrook- Verhältnissen“, wenn er über seine Kindheit in einer Basler Patrizierfamilie spricht. Aus der Verbundenheit wie der Auflehnung gegen dieses protestantisch-großbürgerliche Milieu beziehen seine Romane von „Wüstenfahrt“ (1984) über „Das geheime Fieber“ (1987) bis zu „Das Gefängnis der Wünsche“ (1992) ihren stilistischen Reiz wie ihre inhaltliche Spannung. Und der Kärntner Bergbauernsohn Josef Winkler inszeniert vor der Folie einer Agrargesellschaft und eines archaischen Katholizismus seine blasphemischen und obszönen Rituale in der Tradition Genets oder Pasolinis.
Während Geiser und Winkler gerade der geographischen wie sozialen Peripherie ihrer Herkunftswelt ihre poetische Sprache verdanken, macht sich in den urbanen Zentren der Mainstream-Kultur Sprach- und Phantasielosigkeit breit. „Florian [...], der Selbstmordkandidat, der sich in Mutproben beweist, der sich zögernd seiner Homosexualität bewußt wird, der Thomas auf Startbahn-West- Demos und auf den Straßenstrich folgt und sich in Frankreich von seiner Lehrerin verführen läßt“ – so annoncierte im letzten Herbst der Piper Verlag den Debütroman von Joachim Helfer über „eine westdeutsche Kindheit und Jugend in den siebziger und achtziger Jahren, zwischen Taunus, Mainhattan und der Startbahn West“. Das hört sich an wie der Trailer zu einer neuen Vorabendserie der ARD – neugierig macht es nicht.
Aber vielleicht ist er ja noch irgendwo unerkannt unter uns, der Hoffnungsträger einer neuen homoerotischen Literatur. Der schwule Dichter als junger Mann: Das ist – folgt man Péter Nádas – Narziß an der Quelle, der träumerisch seinem Spiegelbild und dem Echo der eigenen Stimme nachsinnt. Und darauf wartet, daß der Kuß der Muse die Sprache der Erinnerung in ihm löst.
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