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Der Sinn des Gemeinsinns

Die Demokratie lebt von normativen Vorentscheidungen und Voraussetzungen, die sie selbst nur bedingt erzeugen kann; deshalb sind gemeinschaftliche Zusammenschlüsse ein notwendiges Element ihrer Entfaltung  ■ Von Lothar Probst

Micha Brumlik glaubt in seiner Polemik gegen „das Irrlicht des Gemeinsinns“ von der Höhe einer „nachsozialistischen Linken“ aus argumentieren zu können, die auf „Gemeinschaftstheoretiker“ getrost verzichten kann und statt dessen lieber einen „liberalen Konsens“ einfordern sollte. Doch sein Anspruch auf „eine politische Theorie“ der Linken bleibt eigentümlich blaß und beschränkt sich letzten Endes darauf, daß die Linke „nur als linksliberales Milieu weiterexistieren“ kann. Gerade in seiner Abwehr der kommunitaristischen Kritik am „liberalen Konsens“ zeigt sich aber die Schwäche einer linken Position, die immer noch glaubt, Werteverfall, Desintegration und Gemeinsinn seien die Stichworte einer konservativen Rollback-Strategie und könnten von der Linken ignoriert werden. Wenn Schäuble in seinem jüngsten Buch, „Und der Zukunft zugewandt“, reines Interessendenken und einen überbordenden Individualismus in unserer Gesellschaft beklagt, dann liegt er mit dieser Aussage zunächst einmal, jenseits intendierter Instrumentalisierungsversuche, im Trend seriöser zeitgenössischer Debatten, in denen es um die Frage geht, wie angesichts von Fragmentierung und Dissoziation liberale, marktwirtschaftlich organisierte Gesellschaften überhaupt noch zusammengehalten werden können. Utilitaristisches Denken, politischer Privatismus und ein instrumentelles Verhältnis zu den Leistungen des Wohlfahrtsstaates gelten als Symptome einer abnehmenden Identifikation mit dem demokratischen Gemeinwesen. Selbst dort, wo Bürgereinmischung und Bürgerpartizipation stattfinden, geht es keinesfalls nur um Gemeinwohlorientierung, sondern immer öfter um einen gruppenegoistischen und besitzindividualistischen Lobbyismus. Dabei werden nicht selten die Aktionsformen der neuen sozialen Bewegungen kopiert, um gegen den Widerstand demokratischer Institutionen zum Beispiel die Unterbringung von Asylsuchenden, Drogenabhängigen oder Aussiedlern in gutbürgerlicher Nachbarschaft zu verhindern. In einigen Wohnquartieren Bremens haben sich vor einigen Jahren straßenweise Bürgerinitiativen gebildet, die gegeneinander die Verkehrsberuhigung ihrer Straße durchsetzen wollten. In solchen Beispielen drückt sich die Politikfähigkeit von Partikularinteressen aus, die die notwendige Konsensfähigkeit und -bereitschaft in demokratischen Gesellschaften auf die Probe stellen. Offensichtlich erschwert der im Selbstverständnis liberaler Gesellschaften angelegte und immer wieder neu generierte Individualismus eine am Gemeinwohl orientierte Partizipation an den öffentlichen Angelegenheiten und untergräbt die für das Funktionieren demokratischer Gesellschaften notwendigen Formen der Solidarität. Vor diesem Hintergrund ist Brumliks Unterscheidung zwischen Selbstbestimmung und Selbstentfaltung, zwischen Autonomie und Egoismus sowie Individualisierung und Atomisierung eine künstliche Trennung, die durch die Realität moderner Gesellschaften widerlegt wird.

In vielen zeitgenössischen linken Demokratietheorien wird vernachlässigt, daß Demokratie als Staatsform von normativen Vorentscheidungen und Voraussetzungen lebt, die sie selbst nur bedingt erzeugen kann. Dazu gehören ethische und moralische Werte wie Solidarität, Nächstenliebe, Gemeinsinn, Verantwortungsbewußtsein, Respekt und Rücksicht, die durch Traditionen weitergegeben und durch Sozialisationsprozesse erworben werden. Donald W. Winnicott hat in einem bemerkenswerten Aufsatz über die Bedeutung des Wortes „Demokratie“ die Frage aufgeworfen, „welchen Anteil an antisozialen Individuen eine Gesellschaft enthalten (kann), ohne daß eine angeborene demokratische Tendenz untergeht“. Im Mangel an Gemeinsinn verkörpert sich seiner Meinung nach genauso eine antisoziale Tendenz wie in einer Überidentifizierung mit der (staatlichen) Autorität. „Die ganze Last der Demokratie“, so Winnicott, ruht auf den [...] Individuen, die zu reifen Individuen werden und die allmählich fähig werden, zu ihrer wohlbegründeten persönlichen Entwicklung einen Sinn für die Gemeinschaft hinzuzufügen.“ Eine entscheidende Bedeutung für das Gelingen dieser Entwicklung haben seiner Auffassung zufolge die „guten Normalfamilien“, in denen „der demokratische Faktor“ erzeugt werden kann. Die Kommunitaristen sind realistisch genug, um zu wissen, daß aufgrund der von Michael Walzer beschriebenen Mobilitätsvarianten in modernen Gesellschaften (unter anderem soziale und Ehemobilität) die „Normalfamilien“ mehr und mehr durch „Familienfragmente“ abgelöst werden. Sie glauben deshalb auch keinesfalls, wie Brumlik unterstellt, daß man durch „überschwappende Appelle“ die durch Tradition und Sozialisation zu vermittelnden Werte einfach einer sich immer stärker individualisierenden Gesellschaft überstülpen kann. Walzer weist vielmehr darauf hin, daß der Appell an die „republikanische Tugend der Teilnahme an bürgerlichen Angelegenheiten als Gegenmittel zur Fragmentarisierung der heutigen Gesellschaft“ wenig aussichtsreich ist, weil für die meisten Menschen nicht die Politik, sondern der persönliche Lebensunterhalt und ihre private Sphäre im Mittelpunkt stehen. Ein republikanisch überhöhter Partizipationsbegriff würde ins Leere laufen, weil er sowohl die Fähigkeit als auch die Bereitschaft der Bürger zur aktiven Beteiligung an den politischen und gesellschaftlichen Angelegenheiten überschätzt, so wie umgekehrt ein republikanisch entleerter Partizipationsbegriff Gefahr läuft, die Idee der direkten Partizipation zu verabsolutieren und Partikularinteressen als vermeintliche volonté générale zu konstituieren.

Es geht den Kommunitaristen also nicht um Appelle, sondern um die Frage, wieviel Gemeinschaft die Demokratie braucht und wieviel Gemeinschaft sie verträgt. Ein Teil der postsozialistischen Linken in der Tradition der Habermas- Schule schlägt vor, den Dissoziationsproblemen in modernen liberalen Gesellschaften durch immer ausgefeiltere Rechtsgarantien und komplexere institutionelle Arrangements beizukommen. Tatsächlich sind die Institutionen, die die von der Gesellschaft formulierten und akzeptierten Werte schützen, die Verfassungsrechte jedes einzelnen garantieren und notwendige Vermittlungsprozesse zwischen unterschiedlichen gesellschaftlichen Akteuren und Gruppen steuern, ein unverzichtbares Element jeder demokratischen Gesellschaft. Die Linke hat lange gebraucht, bis sie nach Jahren antiinstitutioneller Agitation ihre Vorbehalte gegen demokratische Institutionen schrittweise aufgegeben und sich dem Diktum von Ralf Dahrendorf angenähert hat: „Freiheit ist nicht Freiheit von Institutionen, sondern Freiheit durch Institutionen; Fortschritt ist nicht Systemsprengung, sondern strategische Reform.“ Aber ohne ein „Minimum an selbstverständlich verfügbaren kommunitären Bezügen“ (Peter Ahlheit) können auch Institutionen und institutionelle Arrangements auf Dauer den Zusammenhalt demokratischer Gesellschaften nicht gewährleisten, zumal die Entlastung des Staatsbürgers durch Institutionen die Gefahr in sich birgt, politischen Privatismus, Rückzug und Apathie zu fördern. Je weniger demokratische Gesellschaften heute auf den tugendhaften, am Gemeinwohl orientierten Aktivbürger – wie er in den Entwürfen der Klassiker der zivilen Gesellschaft vorausgesetzt wird – oder auf eine Gemeinschaft stiftende Zivilreligion zurückgreifen können, desto stärker wird die Bedeutung des Wohlfahrtsstaates als Äquivalent für die abnehmende affektive Bindungsfähigkeit einer unübersichtlich gewordenen verrechtlichten Demokratie. Dadurch, daß der Staat immer mehr Aufgaben mit dem Versprechen auf Wohlfahrt aus der gesellschaftlichen Selbstorganisation abzieht und auf bürokratische Organisationen überträgt, schwächt er die Eigenverantwortung der Bürgerinnen und Bürger und fördert ihre Dissoziation. Michael Walzer hat die Konsequenzen dieser Entwicklung folgendermaßen beschrieben: „Je dissoziierter die Individuen, um so stärker der Staat, denn er wird zum einzigen oder zumindest zum wichtigsten sozialen Zusammenschluß.“

Die Diskussion über die Frage, wie sozialstaatlich organisierte Demokratien den Strukturwandel vom Wohlfahrtsstaat zur Wohlfahrtsgesellschaft organisieren können, ohne die Idee der sozialen Gerechtigkeit und des sozialen Ausgleichs aufzugeben, ist deshalb nicht, wie Brumlik meint, „ein Anschlag auf die liberale Demokratie“, sondern im Gegenteil von grundlegender Bedeutung für die Lebensfähigkeit und Lebendigkeit demokratischer Gesellschaften. Es ist die Stärke des Konzepts der „zivilen Gesellschaft“, in diesem Zusammenhang die Bedeutung freier, nichtstaatlicher Assoziationen wieder ins Bewußtsein gehoben zu haben. Natürlich ist es kein Zufall, daß dieses Konzept, das die sozialistische Linke in der Bundesrepublik mit ihrer ökonomistischen und zentralistischen Staatsfixierung lange Zeit ignoriert hat, erst über den Umweg der ostmitteleuropäischen Revolution wieder Eingang in die demokratietheoretischen Debatten gefunden hat. Der Aufbau ziviler Assoziationen, die Stärkung privater Gemeinschaften und der Rückgriff auf traditionelle und neue Beziehungsnetze waren in den meisten ostmitteleuropäischen Ländern notwendige und erfolgreiche Elemente der Zersetzung totalitärer Strukturen und der Aufhebung der von oben erzwungenen Atomisierung der Gesellschaft. Timothy Garton Ash hat mit Blick auf Ostmitteleuropa die Einführung der Marktwirtschaft als logische Ergänzung des Strebens nach einer Zivilgesellschaft genannt. Und Ernst Vollrath spitzt dieses Argument zu, wenn er schreibt: „Unter den modernen Bedingungen gibt es keine Zivilgesellschaft ohne Marktwirtschaft, ebensowenig wie eine Marktwirtschaft ohne die politisch qualifizierte Zivilgesellschaft.“ Die Tatsache, daß der realsozialistische Etatismus die Strukturen einer civil society weitgehend zerstört hatte, ist, wie wir heute wissen, eine der Ursachen für die Probleme des Transformationsprozesses in Ostmitteleuropa.

Aber auch entwickelte demokratische Gesellschaften sind keineswegs, wenn auch auf qualitativ andere Weise, vor der Gefahr des Etatismus gefeit. Unter den Klassikern der civil society war es vor allem Alexis de Tocqueville, der den Verlust von Freiheit und Partizipation durch die zentralisierenden und bürokratischen Tendenzen des modernen bürgerlichen Staates beklagt hat. In seinem Buch „Über die Demokratie in Amerika“ warnt er vor einem sich verselbständigenden Staat, der im Namen der Demokratie „becomes a regulator, inspector, adviser, educator and punisher of social life“. Tocqueville sieht vor allem in der Dezentralisierung von Macht, in der Entfaltung lokaler Demokratie und in der Stärkung unabhängiger Assoziationen notwendige Gegengewichte zur Dominanz des bürokratischen „Wohlfahrtsstaates“. Gleichzeitig fällt seine Skepsis gegenüber staatlicher Zentralität aber nicht in die Unmittelbarkeit basisdemokratischer Demokratieideale zurück. Der Staat und seine Institutionen sind seiner Meinung nach ein notwendiger Garant der Freiheit der Individuen und der freien Assoziationen, so wie umgekehrt eine pluralistische und staatsunabhängige civil society eine unerläßliche Voraussetzung der Demokratie ist. Nur wenn eine Gesellschaft „Geschmack an der Freiheit“ findet, wie Tocqueville sagt, hat sie die Reife eines republikanischen Gemeinwesens.

Die Rückbesinnung auf das Subsidiaritätsprinzip, die kleinen Netze, die Familie und alte und neue gemeinschaftliche Zusammenschlüsse muß also keinesfalls der Sehnsucht nach der Rückkehr zur Wärme vorpolitischer Gemeinschaften entspringen, sondern sie kann auch die Berechtigung eigener Lebensformen der Bürger jenseits staatlicher Regelungen ausdrücken und dadurch ein notwendiges Element der Entfaltung von Demokratie sein. Sich auf Traditionen und Werte zu beziehen ist weder rechts noch antiliberal. Auch demokratische Werte wie Liberalität, Toleranz, Meinungsfreiheit und Kompromißbereitschaft sind nicht einfach nur universalistische Selbstverständlichkeiten, sondern bedürfen der Tradierung, um insbesondere die nachwachsenden Generationen immer wieder aufs neue von den Vorzügen und Leistungen eines demokratischen Systems zu überzeugen. Die Tatsache, daß Brumlik mit der Differenzierung zwischen einem technokratischen Konservatismus, der das konservative Label nur noch als Ideologie vor sich her trägt, gleichzeitig aber durch die ungebremste Beschleunigung technokratischer Modernisierungsprozesse systematisch auf die Zerstörung von Traditionen hinarbeitet, und einem wertorientierten Konservatismus, der Traditionen gegenüber den Auswirkungen von Modernisierungsfolgen schützen will, nichts anzufangen weiß, ist symptomatisch für eine postsozialistische Linke, die sich auf ihr Nischendasein im linksliberalen Milieu zurückzieht. Nicht in der Verdrängung, sondern in der offenen Thematisierung der Dissoziationsprobleme in liberalen Demokratien liegen die Chancen für einen gesellschaftlichen Konsens, der Gemeinschaft nicht mit ethnischen Blutsbanden gleichsetzt. Solange aber diese Dissoziationsprobleme bestehen, bedarf der Liberalismus, wie Walzer sagt, „der periodischen kommunitarischen Korrektur“ – ob es Micha Brumlik gefällt oder nicht.

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