: IG Metall: Genug der Trockenübungen
Rege Beteiligung bei Urabstimmung in den bayerischen Metallbetrieben / Nach 41 Jahren stehen die Zeichen wieder auf Streik / Die Arbeitgeber wollen am Donnerstag beraten ■ Aus Nürnberg Bernd Siegler
„Die Urabstimmung läuft hervorragend, wir brauchen gar nicht viel dazu tun.“ Horst Büttner, stellvertretender Betriebsratsvorsitzender der MAN-Nutzfahrzeuge in Nürnberg, ist zufrieden. „Die Kollegen sind von den Unternehmern enttäuscht, sie wollen den Streik.“ Seit Beginn der Frühschicht sind nicht nur die IG-Metaller von MAN, sondern insgesamt 165.000 Beschäftigte in über 600 Betrieben im Freistaat zur Urabstimmung aufgerufen. Erreicht die Zustimmung die 75-Prozent- Marke, steht dem ersten Streik in der bayerischen Metall- und Elektroindustrie seit 1954 nur noch ein für die IG Metall akzeptables Angebot der Arbeitgeber im Wege. Kommt dies nicht, dann werden schon in der Nachtschicht zum Freitag die Streikposten vor den Betrieben Stellung beziehen.
Zur Überraschung aller Beteiligten hatte die IG-Metall-Zentrale in Frankfurt den streikunerfahrenen Bezirk Bayern als Arbeitskampfgebiet ausgewählt. Die Gewerkschaftsführung im Freistaat ist darauf stolz. „41 Jahre ohne Streik, das ist so, als wenn man ein Fahrrad bekommt und nicht klingeln darf“, betont der Bezirskvorsitzende der IG Metall Bayern, Werner Neugebauer. „Wir haben lange genug Trockenübungen gemacht.“
Bayern bot sich als Streikgebiet an, nicht nur weil dort die Metallunternehmen derzeit besonders hohe Zuwachsraten verzeichnen, sondern weil die Forderungen der im Verband der Bayerischen Metallindustrie (VBM) organisierten Arbeitgeber bundesweit am radikalsten sind. Der VBM will einer geringen Lohnerhöhung nur in dem Fall zustimmen, wenn die vermögenswirksamen Leistungen wegfallen, das Urlaubs- und das Weihnachtsgeld dauerhaft eingefroren werden und eine untertarifliche Bezahlung in Betrieben mit unter 1.000 Beschäftigten sowie in Krisenregionen möglich wird.
„Statt den ArbeitnehmerInnen einen gerechten Anteil am Aufschwung zukommen zu lassen, wollen die Arbeitgeber zurück in die Vergangenheit“, solidarisiert sich der DGB-Landesvorstand mit der IG Metall und schließt sich der Forderung nach sechs Prozent mehr Lohn an. Reallohnverluste in den letzten Jahren, hohe Gewinne bei den Unternehmern und volle Auftragsbücher, das sorgt für Unmut bei den Beschäftigten. „Wir haben so viele Aufträge wie schon lange nicht mehr und schieben jetzt Überstunden“, erklären Horst Büttner von der MAN und sein Kollege Horst Hartmann vom Bosch-Werk 2 in Nürnberg übereinstimmend. Auch bei Bosch läuft die Urabstimmung gut. Viele hätten gefragt, ob es denn nicht eine bessere Lösung als den Streik gäbe, berichtet Hartmann. „Welche denn?“ fragt sich der Bosch-Betriebsrat. Er hält einen Streik für unausweichlich.
„Keiner streikt gerne“, schildert Peter Wiesmüller, Betriebsratssekretär beim Siemens-Trafowerk in Nürnberg, die Stimmung. „Auf der einen Seite fahren wir seit geraumer Zeit Überstunden und schon jetzt drohen sie uns mit Aussperrung“, empört er sich über die Haltung der Unternehmer. Wiesmüller hatte als Schüler den letzten Metaller-Streik in Bayern vor 41 Jahren erlebt. In den Sommerferien 1954 hatte er mit Erstaunen die Menschenaufläufe beobachtet. 100.000 Metaller legten damals für 18 Tage die Arbeit nieder. Die Auseinandersetzung endete für die IG Metall trotz einer durchgesetzten Lohnerhöhung mit einem Desaster. Es gab rund 1.500 Prozesse gegen Gewerkschafter wegen Körperverletzung und Landfriedensbruch. Hunderte von Gewerkschaftern wurden fristlos entlassen und fanden keine Arbeit mehr. Zudem bröckelte der Streik zusehends ab. „Heute passiert uns das nicht mehr“, zeigt Wiesmüller Optimismus.
Wiesmüller und die gesamte IG Metall Führung setzen auf die Uneinigkeit der Arbeitgeber. Der miserablen Situation vieler Zulieferbetriebe steht der Boom in der Automobil- und Maschinenbaubranche gegenüber. Angesichts deren Auftragslage findet selbst Arbeitgeberpräsident Klaus Murrmann einen Streik zum jetzigen Zeitpunkt „unpassend und unglücklich“. Doch Hans-Joachim Gottschol, Präsident des Arbeitgeberverbands Gesamtmetall, beharrt darauf, daß „ein Streik immer noch das kleinere Übel im Vergleich zu einem falschen Lohnabschluß“ sei. Mit einer Anzeigen- und Plakatkampagne („Lohnrunde 95: Pro Arbeitsplätze – Kontra Pleitegeier“) flankieren die Arbeitgeber die Tarifauseinandersetzung. Am Donnerstag, einen Tag nach Bekanntgabe der Urabstimmung, wollen sie über ihr weiteres Vorgehen noch einmal beraten.
In der Euphorie schwingt jedoch auch bei den IG-Metallern Angst und Unsicherheit mit. „Wir haben weniger Angst vor dem Streik“, betont Horst Büttner, „sondern eher vor der Aussperrung.“ Da gehe es dann um's Geld, und die Kollegen hätten „schon jetzt weniger in der Tasche als im letzten Jahr“.
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