: "Der Schüler soll was lernen"
■ Ostberliner Schulbuchverlage füllen eine Marktlücke: Ost-LehrerInnen ist die West-Didaktik zu lasch / PädagogInnen wünschen Orientierung am Lehrplan
Ganz gleich, ob es um Bier, Cola oder Zigaretten geht – Ostprodukte sind längst wieder gefragt. Ein Trend, der sich nicht nur in den Regalen der Supermärkte bemerkbar macht, sondern auch auf den Schulbänken in Neufünfland. In der ersten Wendeeuphorie hatten sich die meisten Schulen mit Lehrbüchern von Westverlagen eingedeckt. Mit denen aber können sich die ehemals realsozialistischen PädagogInnen nicht anfreunden.
Diese Marktlücke entdeckte der 1990 gegründete paetec-Verlag in Ostberlin. Dessen Geschäftsführer Gerd-Dietrich Schmidt weiß, was Ost-LehrerInnen wünschen. An den DDR-Schulen habe man größeren Wert „auf das grundlegende Wissen in jedem Fach“ gelegt. Außerdem sei die „didaktische Konzeption“ stärker auf Eigenaktivität der SchülerInnen und auf die Anforderungen der Abschlußprüfung ausgerichtet gewesen – eine Tendenz, die durch das Zentralabitur in den meisten Bundesländern nicht gerade abgeschwächt werde. Hinzu kommt, daß sich die LehrerInnen in den neuen Ländern viel enger an den Lehrplan klammern. „Der Lehrplan ist oberstes Gesetz“, lautet daher das Verlagskonzept von paetec. Deshalb bietet der Verlag in Fächern, bei denen sich die Vorgaben der jeweiligen Kultusministerien stark unterscheiden, für jedes Land eine eigene Ausgabe an.
Doch auch PädagogInnen aus dem Westen interessieren sich für das Sortiment des auf Mathematik und Naturwissenschaften spezialisierten Verlags, das sich in diesem Jahr mit hundert neuen Titeln fast verdoppelt. Vom Lehrbuch für das Wahlfach Astronomie, für das es bislang kaum Material gab, und dem Tafelwerk „Formeln und Tabellen“ hat Schmidt schon ganze Klassensätze „nach drüben“ verkauft. Im Osten sei der paetec- Verlag bei den aus DDR-Zeiten bewährten Tafelwerken, die freilich kräftig modernisiert wurden, „wahrscheinlich Marktführer“.
Das kann für ein weit größeres Fächerspektrum der ebenfalls in Berlin ansässige Verlag Volk und Wissen von sich behaupten. Der einst volkseigene Betrieb, der von 450 auf jetzt 117 MitarbeiterInnen abspeckte, bietet Bücher für alle Fächer – außer Geschichte und Sozialkunde. Auf diesem Feld weiß der aus dem Westen stammende Geschäftsführer Walter Funken um die historische Vorbelastung seines Hauses. Aus Gesprächen berichtet er aber, daß sich viele LehrerInnen in den vorhandenen Büchern, die Zeitgeschichte nur aus Westperspektive vermittelten, nicht wiederfänden. „Wenn wir ein solches Projekt anfassen, müssen wir einen Beitrag zur Symmetrie leisten“, meint er.
Den Markterfolg von Schulbüchern aus dem Osten erklärt auch Funken mit der „didaktisch-methodischen Konzeption“. In der alten Bundesrepublik sei der „fachwissenschaftliche Zugang“ zum Unterrichtsstoff durch die Bildungsreform der sechziger und siebziger Jahre von einer stärkeren Alltagsorientierung abgelöst worden. Die Ost-PädagogInnen hätten dagegen, durch kein 1968 getrübt, ihren „systematisierend- fachwissenschaftlichen“ Ansatz kultiviert, der auch die heutigen Rahmenrichtlinien der neuen Länder präge.
Wilfried Behrendt, bei Volk und Wissen verantwortlich für die Musikbücher, kritisiert an der Westpädagogik „viel Aktionismus um des Aktionismus willen“. Zwar müsse man die SchülerInnen bei ihren Alltagserfahrungen „abholen“, dürfe aber nicht dabei stehenbleiben, denn die Schule sei „keine Beschäftigungsanstalt“. Behrendts Fazit: „Der Unterricht soll unterm Strich Spaß machen, aber der Schüler soll was lernen.“
Geradezu revolutioniert haben sich in den letzten fünf Jahren die technischen Möglichkeiten der Buchgestaltung. Ein Vergleich von Schulbüchern aus Ost und West zeigt, daß die für Ost-AutorInnen neuen Möglichkeiten bewußter eingesetzt werden als bei West- Verlagen. Bei Volk und Welt wie bei paetec setzen die AutorInnen auf klares Layout, Wichtiges und Unwichtiges wird farblich voneinander geschieden. Nicht nur Behrendt schwärmt: „Es ist ein Genuß, mit welchen Möglichkeiten man arbeiten kann.“ Ralph Bollmann
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen