piwik no script img

Bungee-Jumping in Mexiko

Ein alter Brauch der Indios bereichert die Palette der Freizeitsportarten: Der Sturz in die Tiefe, der Palo Volador der Otomi in Mexiko  ■ Von Norbert Lüdtke

Nur ein dünnes Gummiseil hält den adrenalinsüchtigen Mitteleuropäer, der sich in die Tiefe stürzt, um neue Erfahrungen zu suchen. Nervenkitzel im Fast-food-Zeitalter: einfach, schnell und vergleichsweise billig. Andere Sportarten sind da anspruchsvoller.

Oder gibt es tiefere Beweggründe, sich an einem Seil in die Tiefe zu stürzen? In den dreißiger Jahren dieses Jahrhunderts war Hans Helfritz Zeuge eines jahrhundertealten Brauchs der Otomi, eines mexikanischen Volksstamms, der direkt an die Kultur der Azteken und Tolteken anknüpft, wenngleich die Otomi immer die einfache Landbevölkerung bildeten. Die Vorbereitungen zum Palo Volador beschreibt er in seinem 1939 erschienenen Buch „Mexiko früher und heute“ so: „In früheren Zeiten wurde zu diesem Fest alljährlich ein neuer Baumstamm in den nahen Kiefernwäldern geschlagen, nachdem der Brujo, der Zauberer des Dorfes, ihn zu seiner neuen Bestimmung geweiht hatte. Wie ein riesiger Wurm, von etwa hundert Leuten geschleppt, kroch dann der Mast auf beschwerlichen Wald- und Bergpfaden langsam zum Marktplatz des Ortes. In eine tiefe Grube, in die er gepflanzt wurde, versenkte der Brujo vorher einige Opfergaben, um die Voladores vor Unglück zu bewahren. ...es gab noch genug vorzubreiten. Zunächst mußten die Leute ausgewählt werden, die in den Wald geschickt wurden, um Schlingpflanzen zu schlagen, mit denen der Mast umwunden werden sollte. Sie dienen den Voladores als Strickleitern beim Besteigen des Mastes... Dicht unter der Spitze wurden sechs Seile aufgewickelt, die so lang waren, daß sie vom Ende des 28 Meter hohen Mastes bis zum Erdboden herabreichten. Über die Spitze selbst wurde eine große hölzerne Kappe gelegt, in ihrer tiefen Aushöhlung über jener drehbar. An dieser Kappe wiederum befand sich, mit Seilen befestigt, ein sechseckiges Holzgestell.“

Während der zwei Tage dauernden Vorbereitungen mußten sich die „fliegenden Tänzer“ durch Fasten auf die Zeremonie einstimmen. Dann, am Nachmittag des zweiten Tages, erschienen sie: „Über den weißen Hosen trugen sie enganliegende rote Kniehosen mit Spitzen und kleine rote Schürzen. Um das Haar hatten sie ebenfalls rote Tücher geschlungen. Über Rücken und Brust waren kreuzweise zwei rote Taschentücher gebunden, symbolisch für das Federkleid der aztekischen Macaws, Vögel, die der Sonne geweiht waren und die die aztekischen Voladores verkörpern sollten.“

Schon zur Zeit der spanischen Eroberung Südamerikas wußte man vom Palo Volador. Torquemada, ein spanischer Franziskaner, der Anfang des 17. Jahrhunderts nach Südamerika reiste, berichtet: „Ich denke, es ist eine Erfindung des Teufels, damit seinen Dienern ein ständiges Andenken an den Dienst des Teufels bleibt.“ Da wundert es nicht, wenn die spanischen Eroberer die Fliegertänze verboten hatten. Zur Zeit Helfritz' gibt es sie nur noch in wenigen Dörfern Mexikos und Guatemalas. Den Höhepunkt der Zeremonie beschreibt Helfritz: „Jetzt erstiegen die sechs Voladores den Mast und setzten sich zunächst, das Gesicht der Holzkappe zugewandt, die Füße gegen den Mast gestemmt, auf den hölzernen Rahmen. Der Mann mit Trommel und Flöte begann beide Instrumente gleichzeitig zu spielen, ein anderer erstieg die Kappe und tanzte zehn Minuten lang auf der winzigen Fläche der Drehkappe, 28 Meter hoch über dem Boden. Er tanzte und sprang dabei hoch in die Luft, mit einer Leichtigkeit, daß man annehmen möchte, er fühlte sich auf der Mastspitze ebenso sicher wie bei einem Tanz auf dem Erdboden. Dann setzte er sich wieder auf den Rahmen und befestigte, wie es auch die anderen taten, das Ende eines Seiles um seinen Leib. Auf ein Kommando sprangen plötzlich alle sechs Tänzer gleichzeitig in die Luft. Sie hingen mit dem Kopf nach unten an den Seilen, die sie zwischen den Füßen hielten. In gleichem Abstand flogen die Tänzer in einem durch das Abrollen der Seile immer größer werdenden Stern 23mal um den Baum herum, wobei sie dem Erdboden allmählich immer näher kamen und zuletzt nach schneller Umdrehung auf die Füße sprangen. Während des ganzen Ablaufes des Fliegens führte jeder der sechs Voladores bestimmte Tanzfiguren mit den Armen aus. Der Mann mit den Instrumenten spielte die Flöte und schlug die Trommel, die andern gebrauchten ihre Rasseln.“

Nun, heute erhebt sich am Eingang El Tajins ein hoher Metallmast, von dem sich die Voladores gegen Bezahlung für die Touristen in die Tiefe stürzen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen