■ Press-Schlag: Blutrote Griffel
„The Calculator“ wiegelte ab. „Das war ein individueller Fehler von Bodo Schmidt, der immer wieder passieren kann“, wollte Dortmunds nachdenklicher Trainer Ottmar Hitzfeld nichts von einer (Mit-)Verantwortung der Dortmunder Fans am 1:0 des 1. FC Kaiserslautern in der 45. Minute wissen. Als die ausgemachte Reizfigur des gelbschwarzen Anhangs, der am 20. September letzten Jahres beim 6:3-Pokalsieg der Lauterer von Möller zu Boden gestreckte Ciriaco Sforza, kurz vor der Pause mehrmals hintereinander vor dem Dortmunder Fan-Block zur Ecke schritt, kamen ihm gleich dutzendweise westfälische Flachmänner entgegen. Der Aufforderung des Stadionsprechers, dies zu unterlassen, schloß sich spontan auch Matthias Sammer an, der mit Nachdruck für eine flaschenfreie Spielzone warb. Doch der Preis war hoch, die Konzentration kurzzeitig geschwunden. Ecke Sforza, Fehler Schmidt, Kopfball Kuntz – 1:0.
Ein Treffer, dessen Bedeutung man vielleicht erst am 17. Juni ermessen wird, wenn zwischen Dortmund, Bremen, Freiburg und Kaiserslautern abgerechnet wird. Ansonsten ließen die Unterstützer auf beiden Seiten entsprechend der Verhetzung in Springers Wochenblättchen („Polizeischutz für Dortmund“, „Warum dieser Haß?“) und der täglichen Ekelgazette („1. Endspiel in der Hölle“) keinen ihrer hochgeistigen Reime und Unreime aus. Während die Trainer, die noch im September die Hauptakteure in einem entgleisten Pokalspiel mit mehreren ernsthaft Verletzten waren, zahm wie die Lämmer und brav wie Konfirmanden in feinem Abstand voneinander agierten, entlud sich der Unmut der Fans auf Andreas Möller („Haut den Möller um!“) und Ciriaco Sforza („Sforza, du Arschloch!“).
Bösartige Fouls blieben diesmal aus. Dafür bemühte sich Matthias Sammer bei einer verunglückten Aktion an der Seitenlinie, alte Vorurteile gegen die Träger roten Kopfschmucks wiederzubeleben. Vor Wut über sich selbst und den Schiedsrichter schleuderte der rothaarige Libero den Ball meterweit von sich weg und hatte Glück, ohne gelbe Karte davonzukommen. Doch entgegen allen Befürchtungen und Prophezeiungen der katastrophengeilen Boulevardpresse knüpften Trainer, Fans und Aktive nicht an den 20. September, sondern an den 30. April 1994 an, als der 1. FCK durch ein 2:0 gegen den BVB seine Meisterschaftschance wahrte und kurzzeitig gar die Begründung einer Fan-Freundschaft 1. FCK/BVB im Raum stand.
Die Vehemenz, mit der mit blutrotem Griffel die Gewalttätigkeiten vor, bei und nach dem Spiel geradezu herbeigeschrieben werden sollten, gibt aber angesichts der jüngsten Vorfälle in Italien, Frankreich und Brasilien, wo Menschen im Umfeld des Fußballs zu Tode kamen, sehr zu denken. Günter Rohrbacher-List
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