: Nachschlag
■ Routinierte Eleganz ohne Genuß: „Onkel Wanja“ im DT
Das böse Erwachen kommt, wie immer, zu spät. Aber als Sonja und ihr Onkel Iwan Petrowitsch („Onkel Wanja“) merken, daß sie Leben und Arbeitskraft an ein falsches Ideal verschwendet haben, stehen sie bereits vor dem Bankrott ihrer eigenen Lebensgeschichte, für die sich keine Perspektive mehr bietet. Für den völlig überschätzen Kunstprofessor Serebrjakow haben sie ihr halbes Leben ein Gut bewirtschaftet. Haben sich jeden Pfennig vom Munde abgespart, um ihm die Arbeit zu ermöglichen, und auf ein eigenes Leben verzichtet. Nun, da er als Pensionär bei ihnen lebt, müssen sie erkennen, daß er nur ein aufgeblasener Angeber ist, der sein Leben lang bloß Phrasen gedroschen hat.
Wir sind im Deutschen Theater, wo diesmal Intendant Langhoff den Tschechow-Klassiker inszeniert hat. Auf Pieter Heins Bühne, einem weiten und lichtdurchfluteten Raum, der mit seinen hohen Flügeltüren und riesigen Fensterfronten jedes Bild bestätigt, das wir vom Theater-Rußland der Jahrhundertwende uns zu machen schon lange gewohnt sind, findet sich ein hochkarätiges Ensemble ein. Dietrich Körner als abgewrackter Professor, Dagmar Manzel als seine junge Frau. Ulrike Krumbiegel spielt die schwärmerische Tochter Serebrjakows aus erster Ehe, die unerfüllt seit Jahren Landarzt Astrow liebt, den hier Jörg Gudzuhn gibt. Und eigentlich könnten wir uns nun getrost im Sessel zurücklehnen, um einen dieser Theaterabende von routinierter Eleganz zu genießen, die der Name Langhoff seit langem garantiert. Doch der Genuß will sich dann doch nicht einstellen.
Denn die ganze Schar von gescheiterten Existenzen, die da ihre ungenutzt verstrichene Lebenszeit beklagt, sie läßt uns seltsam kalt. Ihr Unglück, ihre Lethargie und Unfähigkeit zu handeln plätschert als gepflegte Langeweile an uns vorüber. Wäre da nicht Christian Grashof, der den Wanja spielt: so scharf, so klar, so voller schmerzverzerrter Selbstironie. Einer, der den Aufstand gegen sich selbst verlor. Doch der Eindruck verfliegt, weil er sich nicht in ein Ganzes fügt. Weil all die mehr oder weniger tragischen Beziehungen, durch die die Menschen in diesen „Szenen aus dem Landleben“ aneinandergekettet sind, stets wie bloße Behauptungen Tschechows wirken, die der Regisseur nicht einzulösen vermag. Bleibt die Frage, warum. Vielleicht, weil Langhoff etwas ganz anderes erzählen wollte und sich den Blick auf Tschechow dadurch verstellte? Onkel Wanja, Astrow und Sonja, Telegrin (Reimar Joh. Baur) und Marija Wassiljewna (Inge Keller), sie alle hätten auch Ostdeutsche nach der Wende sein können. Zumindest teilen Tschechows Figuren mit ihnen die Erfahrung, wie ein gelebtes Leben an neuen Verhältnissen gemessen plötzlich seinen Wert verliert und alle daran geknüpften Hoffnungen und Mühen mit einem Mal bedeutungslos geworden sind. Doch das ist eine andere Geschichte. Esther Slevogt
Nächste Vorstellung heute, 19.30 Uhr, Deutsches Theater, Schumannstraße 13a, Mitte.
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